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USA: Wie die Black-Lives-Matter-Bewegung die Gesellschaft verändert

In den USA verändert die Black Lives Matter-Bewegung Politik und Gesellschaft. Das ist gut so – auch im Hinblick auf die demographische Entwicklung, meint Knut Dethlefsen von der Friedrich-Ebert-Stiftung.
von · 16. September 2020
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Die Debatten um Polizeigewalt und strukturellen Rassismus in den USA haben in den letzten Monaten eine neue Dimension gewonnen, aber sie sind nicht neu. Die Black Lives Matter(BLM)-Bewegung entstand bereits 2013 nach dem Freispruch von George Zimmerman, der angeklagt war, den schwarzen Teenager Trayvon Martin ermordet zu haben. Neu ist allerdings, dass zahlreiche Fälle von Polizeigewalt gegen Schwarze öffentlich wurden und dank Videoaufnahmen nun nicht mehr zu leugnen sind. 

Heute ist auch klar, dass Black Lives Matter keine Modeerscheinung ist, sondern ein Grundpfeiler der US-Demokratie. Der gegenwärtige Moment ist in der amerikanischen Politik, Kultur und Gesellschaft der bisher ernsthafteste Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit belasteter Vergangenheit. Angesichts einer Pandemie, der überproportional Afro-Amerikaner*innen und Latinos zum Opfer fallen, ist die Auseinandersetzung mit den belasteten Seiten der US-amerikanischen Geschichte für die amerikanische Gesellschaft lebenswichtig. Sie ist für die Zukunft der US-Demokratie schlicht unumgänglich.

Ungleichheit durch Corona verschärft

Die heutigen Proteste sind nicht auf die afro-amerikanische Community beschränkt. Im Gegenteil: Die Solidaritätsaktionen gehen quer durch die gesellschaftlichen Schichten. Das geht mit einem Stimmungswechsel in der öffentlichen Meinung einher, in der eine Mehrheit sagt, dass schwarze Leben in der Tat zählen. Fast zwei Drittel der US-Bevölkerung unterstützen die BLM-Proteste und mehrheitlich sagen sie, dass Afro-Amerikaner*innen rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sind. Diese lässt sich auch faktisch belegen, wie Paul Heideman es für den US-Immobilienmarkt nachweisen konnte.

Die Corona-Krise hat die bestehenden Ungleichheiten weiter verschärft. Bereits vor Corona lag die Arbeitslosenrate für Afro-Amerikaner*innen fast doppelt so hoch wie die der Weißen. Viele von denjenigen, die Arbeit hatten, verdienten Niedriglöhne. Besonders eklatant sind die Lohnunterschiede für schwarze Frauen. Sie verdienen 68 Cents für jeden Dollar, den ein weißer Mann verdient. Auch die Einkommen, Vermögen und Armutsraten variieren stark zwischen den Bevölkerungsgruppen: Afro-Amerikaner*innen haben ein reales Medianeinkommen, das bei etwas mehr als der Hälfte dessen von Weißen liegt. Ihre Vermögen sind zehnmal niedriger als die weißer Familien und ihre Armutsrate ist mit 20 Prozent doppelt so hoch wie die der weißen Amerikaner*innen.

Zahlen Ergebnis von strukturellem Rassismus

Ein ähnlich ungleiches Bild zeigt das Strafrechtssystem. Trotz Strafrechtsreform machen Afro-Amerikaner*innen ein Drittel der verurteilten Gefängnisinsassen aus, obwohl sie nur etwa 13 Prozent der erwachsenen US-Bevölkerung stellen. Afro-Amerikanische Männer sind besonders gefährdet: Sie haben im Laufe ihres Lebens eine Chance von eins zu drei, ins Gefängnis zu kommen, und die Wahrscheinlichkeit von der Polizei getötet zu werden, ist 2,5-mal höher als bei Weißen. All das ist weder Zufall noch Konstrukt, sondern das Ergebnis von jahrhundertelanger Diskriminierung und strukturellem Rassismus.

Dagegen wehrt sich die BLM-Bewegung und sie könnte ähnlich transformativ für die USA wirken wie die Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Und auch inhaltlich lässt sich eine direkte Linie zwischen beiden ziehen. Denn die aktuellen Unruhen drücken mehr aus, als die berechtigte Wut über Polizeibrutalität. Sie zeugen von einem Gefühl der politischen und wirtschaftlichen Ohnmacht. „Ein Aufruhr (ist) die Sprache der Ungehörten“, wie Martin Luther King 1967 sagte. Er fuhr fort: „Und was ist es, das Amerika nicht gehört hat? Es hat es versäumt zu hören, dass sich die Lage der armen Schwarzen in den letzten Jahren verschlechtert hat. Es hat es versäumt zu hören, dass die Versprechen von Freiheit und Gerechtigkeit nicht eingehalten wurden.“

Die Forderungen nach grundlegendem Wandel betten sich in einen längerfristigen US-Trend zu mehr Staat ein. Nach zwei Rezessionen in nur zwölf Jahren und der Erosion des American Dream, den vor allem die junge Generation zu spüren bekommt, fordert diese einen Staat, der stark genug ist, mit einer Pandemie und einer Rezession umzugehen, und die Versprechen und Garantien der Verfassung erfüllen kann. Fünfzig Jahre nach dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung verlangen heute nicht nur junge Menschen von der Politik, dass sie sich endlich des chronischen Problems des Rassismus annimmt. Und tatsächlich bewegt sich auf nationaler und lokaler Ebene etwas. 

Bewegung zeigt Wirkung

Die Fälle exzessiver Polizeigewalt haben Spitzensportler zum Protest motiviert, sie haben eine gesellschaftliche Debatte zum Umgang mit den „Vorbildern“ der eigenen Geschichte ins Rollen gebracht und auch konkrete Veränderungen angestoßen. So wurde von den Demokrat*innen im Repräsentantenhaus im Juni der George Floyd Justice in Policing Act verabschiedet. Unter anderem könnten auf dieser Grundlage alle Polizeibeamten für ihre Handlungen durch Beendigung der „qualifizierten Immunität" zur Rechenschaft gezogen werden. Das Gesetzesvorhaben legt u.a. einheitliche Richtlinien für die Anwendung von Gewalt fest, beschränkt die militärische Ausrüstung der Polizei und stuft Lynchjustiz als Hassverbrechen ein. 

Zwar scheiterte das Gesetz bisher am Widerstand der Republikaner*innen im Senat, aber zentrale Polizeireformen konnten in Bundestaaten wie Colorado und New York bereits umgesetzt werden. Die Proteste der BLM-Bewegung haben auch zu Anpassungen von Polizeibudgets auf Gemeindeebene geführt. Die Forderung nach Kürzungen unter dem Stichwort „defund the police“, die von Gegner*innen instrumentalisiert und vorsätzlich als angeblicher Wunsch nach Abschaffung der Polizei falsch repräsentiert wird, ist vielmehr als Investition in Prävention gedacht. Aus Mangel an Sozialdiensten wird die Polizei in vielen Gemeinden zu Situationen gerufen, die eigentlich keiner Staatsgewalt bedürfen. Deshalb hat z.B. die Stadt Pittsburgh zehn Prozent ihres jährlichen Polizeibudgets für Gewaltpräventionsprogramme umgewidmet und der Bürgermeister von Los Angeles plant, bis zu 150 Mio. US-Dollar vom Polizeibudget in Jugendarbeitsplätze, Gesundheitsinitiativen und "Friedenszentren" zur Traumaheilung zu investieren.

Neben den konkreten Reformen in diesem Jahr hat sich auch qualitativ etwas verändert. Heute ist eine breitere gesellschaftliche Koalition am Werk. Darin sehen politische Beobachter*innen, wie der Afro-Amerikaner und frühere Bürgermeister von Kansas City, Sly James, auch einen wesentlichen Fortschritt und Erfolg der heutigen Bewegung: „Der Unterschied zu 2014 besteht darin, dass es jetzt so viele Weiße gibt, die an diesem Gespräch beteiligt sind. Es ist genau wie bei der Drogenepidemie in den 60er Jahren: Alle dachten, die Drogen seien auf die schwarze Nachbarschaft beschränkt, bis sie in die Vorstädte kamen. Sobald sie in den Vorstädten auftauchten, wurden Maßnahmen ergriffen. Die Situation erfordert jetzt Verbündete aller Hautfarben …. Am Ende des Tages sind wir alle Amerikaner, und wenn wir nicht zusammenstehen, werden wir mit Sicherheit auseinanderdividiert.“ Die Diversität der Bewegung war unter anderem beim 57. Jahrestag des „Marsches auf Washington“ im August sichtbar.

Offene Türen bei Demokrat*innen

Doch wie reagieren die politischen Parteien in den USA auf die BLM-Bewegung? Die Demokrat*innen gehen bisher sehr aktiv auf die Forderungen ein. Sowohl progressive als auch moderate Demokrat*innen treten für einen starken und handlungsfähigen Staat ein. Was passieren kann, wenn Institutionen durch Korruption, Inkompetenz und Politisierung absichtlich geschwächt werden, hat das komplette Versagen der Trump-Regierung in der Corona-Pandemie deutlich gemacht. Und auch wenn es inhaltliche Auseinandersetzungen um die richtigen politischen Rezepte zwischen BLM-Aktivisten und den Demokraten gibt, ist klar, dass momentan nur eine der beiden großen US-Parteien gesellschaftlich gewachsene Ungleichheit in Amerika bekämpfen will – die andere instrumentalisiert diese lediglich. Joe Biden sprach mit Blick auf die Zukunft der USA von einem „Kampf um die Seele der Nation“

Dazu kommt, dass sich Amerikas Wählerbasis aufgrund des demographischen Wandelsverändert. Das Land wird in den nächsten 25 Jahren eine “majority-minority” Nation werden. Waren im Jahr 2000 noch gut ein Viertel der Wählerinnen und Wähler nicht weiß, so werden es in diesem Jahr bereits ein Drittel sein. Diese Veränderungen betreffen beide Parteien – Republikaner*innen und Demokrat*innen – gleichermaßen, aber bereits heute ist jeder vierte Wähler der Demokrat*innen nicht weiß, während es bei den Republikaner*innen nicht mal ein Fünftel ist. 

Insbesondere weiße Wähler*innen ohne Hochschulbildung werden den Prognosen zufolge bis 2036 in beiden großen Parteien eine rapide sinkende Basis bilden. Das bedeutet noch nicht per se, dass eine von ihnen einen Vorteil bei zukünftigen Wahlen haben wird. Es bedeutet aber, dass sich beide Parteien verändern und diese Veränderungen in ihrer inhaltlichen und personellen Aufstellung niederschlagen werden. Während die Republikaner*innen momentan verstärkt Erfolg bei ihrer weißen, schrumpfenden Wählerbasis suchen, führt dies zu sinkender Unterstützung bei anderen Bevölkerungsgruppen. Insofern tun die Demokrat*innen gut daran, neue und breitere Wähler*innen-Koalitionen zu schmieden, auch wenn sie dabei die Unterstützung einiger weißer Wähler*innen verlieren.

Aber ganz gleich, ob es sich auszahlt oder nicht, sollte die Politik für die individuellen Rechte und Chancen aller Amerikaner*innen einstehen. Das Versprechen und der Charakter der USA stehen auf dem Spiel. Oder wie es Sly James sagte: „Es ist schwer zu verstehen, wie wir dieses Land weiterhin lieben können, wenn dieses Land uns nicht zurückliebt.”

Am 14. September erschienen im IPG-Journal

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