Urwahl: Welche Tücken die Beteiligung von Nichtmitgliedern hat
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Als Nicola Zingaretti im März 2019 zum neuen Vorsitzenden der „Partito Democratico“ gewählt wurde, erhielt er nicht nur die Mehrheit der Stimmen seiner Parteimitglieder. Die rund 1,5 Millionen Menschen, die über den neuen Parteichef der italienischen SPD-Schwesterpartei abstimmten, mussten nur drei Voraussetzungen erfüllen: Sie mussten die italienische Staatsbürgerschaft besitzen oder zumindest eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis im Land, mindestens 16 Jahre alt sein und sich vorab als Unterstützer der PD registrieren. Ein Parteibuch besitzen mussten sie nicht.
Urwahl des Vorsitzenden in der Satzung
„Die Urwahl der oder des Vorsitzenden steht bei der PD verpflichtend in der Satzung“, erzählt Federico Quadrelli. Der 32-Jährige ist seit 2011 Mitglied der PD, seit 2013 koordiniert er die Auslandsaktivitäten der Partei in Ostdeutschland. In Berlin, wo Quadrelli lebt, hat die Partei inzwischen 52 Mitglieder. Seit 2014 ist Quadrelli auch Mitglied der SPD.
„Ich hoffe sehr, die SPD wird nicht denselben Fehler machen wie die PD“, sagt er. Was Quadrelli meint, ist die Idee, auch Nichtmitglieder über den Parteivorsitz mit abstimmen zu lassen. Nach dem Rücktritt von Andrea Nahles Anfang Juni hatte etwa der Chef des Seeheimer-Kreises Johannes Kahrs diese Möglichkeit ins Spiel gebracht. Auch unter den mehr als 23.000 Verfahrensvorschlägen, die im Juni im Willy-Brandt-Haus eingingen, findet sich der Vorschlag.
Mehr dem Volk als der Partei verpflichtet
„Nicht-Mitglieder an parteiinternen Auswahlverfahren teilnehmen zu lassen, geht nur in Ländern, in denen Parteien keine so wichtige Rolle spielen“, ist Federico Quadrelli überzeugt. Als Beispiel nennt er die USA, wo die Parteien nur während der Wahlkämpfe erkennbar würden. Für sein Heimatland Italien und Deutschland hält Quadrelli die offene Urwahl dagegen nicht geeignet.
Dabei bezieht er sich auf konkrete Erfahrungen, die er in den vergangenen Jahren gemacht hat. Nachdem Matteo Renzi in Dezember 2013 mit 68 Prozent auch von vielen Nichtmitgliedern zum PD-Vorsitzenden gewählt worden war, habe er sich, vor allem als er 2014 Ministerpräsident wurde, mehr dem italienischen Volk und nicht der Partei verpflichtet gefühlt. „Besonders hat sich das bei der Diskussion über Renzis Arbeitsmarktreformen gezeigt“, meint Federico Quadrelli. Kritik aus der Partei habe Renzi mit dem Argument weggewischt, eine breite Mehrheit im Volk trage seine Politik.
Urwahl-Teilnehmer sind schwer zu kontrollieren
„Eine Gefahr der offenen Urwahl ist, dass Diskussionen innerhalb der Partei kaum noch stattfinden“, ist Quadrelli überzeugt. So würden die Parteien „hohl“, Mitglieder fühlten sich nicht ernst genommen. „Über kurz oder lang spaltet das die Partei“. Bei der PD komme hinzu, dass es kaum eine Möglichkeit gebe, die Macht des Vorsitzenden zu begrenzen. Denn anders als etwa bei der SPD, wo die Mitglieder des Parteivorstands einzeln gewählt werden, suche sich der neue Vorsitzende seinen Vorstand selbst zusammen.
Zudem sei schwer zu kontrollieren, wer bei der offenen Urwahl abstimme. „Die Wähler müssen im Wahllokal unterschreiben, dass sie die Ziele der PD teilen und zwei Euro Verwaltungsgebühr zahlen. Das war’s“, berichtet Federico Quadrelli. So sei es bei der Wahl Renzis vorgekommen, dass gezielt Menschen für ihn abgestimmt hätten, „um den linken Flügel der PD zu schwächen“ – zu dem Quadrelli sich selbst zählt.
Auch Delegierte könnten per Urwahl bestimmt werden
Das Instrument der Urwahl befürwortet der 32-Jährige dagegen. „Eine Urwahl ist gut, solange nur Mitglieder daran teilnehmen“, sagt er. Da es im Gegensatz zu Deutschland in Italien kein Parteiengesetz gebe, das hierzulande eine Urwahl verbietet, sei das Verfahren ohnehin verbreitetet. Aus Sicht Quadrellis sollte ein Kandidat für den Parteivorsitz nicht nur als Person antreten, sondern auch ein klares politisches Programm mitbringen, das er als Vorsitzender umsetzen wolle.
Und noch einen Vorschlag hat Quadrelli für die SPD: „Wenn der oder die Vorsitzende per Urwahl gewählt wird, könnte es auch sinnvoll sein, die Delegierten für den Bundesparteitag auf diesem Weg zu bestimmen“, findet er. „Die Partei sollte allerdings nicht nur über die Urwahl diskutieren, sondern auch über ihre Struktur und Programmatik.“
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.