Ukraine: Wie Verhandlungen den Krieg beenden könnten
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Seit Monaten baute Russland seine militärischen Kräfte rund um die Ukraine auf. Dennoch zeigten sich viele vom Angriff überrascht. Haben wir die Zeichen falsch gedeutet oder wollten wir sie übersehen?
Peer Teschendorf: Es stimmt, dass der Truppenaufmarsch sehr sichtbar vollzogen wurde und es seit einiger Zeit klar war, dass Russland eine Invasion beginnen könnte. Dennoch sind viele davon ausgegangen, dass dies mehr Drohkulisse ist, um Zugeständnisse zu erzwingen, oder dass es maximal um eine Annexion des Ostens gehen würde. Viele – auch russische Analysten – gingen davon aus, dass eine Invasion unlogisch wäre, weil mit enormen Kosten auch für Russland verbunden. Wir haben uns geirrt, weil wir davon ausgingen, dass unsere Rationalität auch der Maßstab des Handelns der russischen Führung sei.
Seit der Rede des russischen Präsidenten am 21. Februar ist klar, dass emotionale und irrationale Aspekte die Entscheidungen stärker beeinflussen. Wir leben in Europa in einer Welt, in der wir Dinge ausverhandeln, Interessen und Möglichkeiten abwägen und Kompromisse finden. Wir haben verlernt, Emotionen, wie Enttäuschungen, Wut, Demütigungen, als Faktor politischen Handelns zwischen Staaten einzupreisen. Eigentlich ein zivilisatorischer Fortschritt. In der aktuellen Situation führte das aber zu einer Fehlwahrnehmung.
Marcel Röthig: Wir sind lange davon ausgegangen, dass das schlimmste Szenario im Konflikt eines der Schaffung von militärischen Fakten im Donbass seien könnte: Also zunächst die Anerkennung der beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk, flankiert von sogenannten Friedenstruppen, sowie die eventuelle Ausweitung ihrer Gebiete um Zweidrittel bis an die Grenzen der beiden Bezirke heran. Dieses Manöver dann schlimmstenfalls unterstützt durch Luftangriffe auf militärische Ziele im ganzen Staatsgebiet. Dass es so schlimm kommen könnte – mit einer Invasion von drei Seiten – hat auch in der Ukraine niemand befürchtet, am wenigsten wahrscheinlich die Regierung.
Wir müssen daraus die Lehre ziehen, dass außenpolitische Entscheidungen nicht mehr durch rationale Annahmen allein getroffen werden. Wir müssen uns auf die Motive einstellen, die manche Länder in ihrer Entscheidungsfindung bewegen, wie das Streben nach Einflusssphären und die Bereitschaft, diese Ziele gegebenenfalls auch militärisch zu verfolgen. Wir waren eigentlich davon ausgegangen, das im 21. Jahrhundert hinter uns gelassen zu haben.
Die Frühwarnzeichen für diese Entwicklung haben wir verkannt. Eines war sicherlich die militärische Eskalation in Berg-Karabach. Dass hier ein Staat den Status quo mit militärischen Mitteln zu seinen Gunsten verändert hat, war ein kleines Vorspiel dessen, was wir jetzt gerade in der Ukraine erleben.
Waren die Verhandlungsbemühungen Deutschlands, Frankreichs und der USA von Anfang an zum Scheitern verurteilt oder haben wir schlicht zu wenig geboten?
Teschendorf: Verhandlungen sind nie vergeblich. Erstens konnte niemand mit Sicherheit sagen, ob Russland nicht vielleicht doch zu einer Verhandlungslösung bereit war. Zweitens war es wichtig, allen deutlich zu machen, dass wir zu ernsthaften Verhandlungen bereit waren. Es lagen relevante Themen auf dem Tisch, die eine deutliche Verbesserung der Sicherheitslage Russlands und damit Europas möglich gemacht hätten. Und dies waren die ersten Verhandlungsschritte. Mehr hätte unter Umständen auch folgen können. Auch in Russland wurde wahrgenommen, dass es Chancen auf Verhandlungen gegeben hätte. Nicht alle waren zufrieden mit der westlichen Reaktion, aber die meisten hätten einen Sinn in weiteren Verhandlungen gesehen. Es fällt damit schwer, den Westen als einseitig aggressiven Akteur nach innen dazustellen. Es wird die Grundlage sein, auf der wir irgendwann wieder in Verhandlungen einsteigen können. Nicht in naher Zukunft, aber doch irgendwann.
Ich glaube nicht, dass wir an diesem Punkt mehr hätten bieten können. Mir leuchtet nicht ein, dass eine justiziable Vereinbarung zur Nicht-Mitgliedschaft der Ukraine etwas grundlegend verändert hätte. Russland wirft dem Westen permanent Wortbruch vor, legt selbst das Völkerrecht jedoch recht frei aus. Aus welchem Grund sollte da ein weiteres Rechtsdokument zur Ukraine mehr Sicherheit bringen? Es ging letztlich um die Frage des Einflusses auf die Ukraine. Es ist aber nicht an uns, die Souveränität eines anderen Staates zur Disposition zu stellen. Hier waren schlicht keine weiteren Angebote möglich.
Röthig: Aus jeder Krise und jedem Krieg kommt man nur mit Verhandlungen raus. Auch der jetzige Krieg wird sich nur mit Verhandlungen beenden lassen. Andernfalls wiederholt sich eine Entwicklung, die wir auf jeden Fall vermeiden wollen, nämlich die eines zweiten Afghanistans der 1980er Jahre oder des Iraks 2003 – nur diesmal an der EU-Außengrenze. Das wäre dann eine Situation, in der westliche Partner jahrelang Waffen in den Konflikt liefern und Russland in einem Abnutzungskrieg gezwungen wird. Das ist in niemands Interesse, nicht Russlands oder des Westens und erst recht nicht der Ukraine.
Die Verhandlungen haben im Vorfeld in beachtlicher Intensität stattgefunden. Es war wichtig, dass Russland die Konsequenzen einer Eskalation bereits vorab aufgezeigt wurden. Russland hat diesen Warnungen allerdings nicht geglaubt. Man ging dort davon aus, dass der Westen nach einer militärischen Eskalation sehr schnell zu einem Status quo ante zurückkehren würde, ähnlich der Erfahrung nach dem Georgienkrieg 2008. Auf der Basis dieser Annahme hat Russland eine Entscheidung getroffen und die angedrohten Konsequenzen haben sich nun materialisiert.
Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder verhandelt wird. Auch wenn die ukrainische und russische Seite ohne Ergebnisse aus dem ersten Verhandlungstag gekommen sind, gibt es positive Signale. Die Tatsache, dass sie sehr lange verhandelt haben, dass sie weiterverhandeln wollen und dass sie beide angedeutet haben, sich vielleicht auf einige Punkte einigen zu können, ist ein gutes Zeichen. Es ist allerdings nur Schritt eins auf einem langen Weg zu einer Lösung. Es ist tragisch, dass der Krieg parallel weitergeht. Dennoch wird er sich nur durch Verhandlungen lösen lassen.
Verhandlungen müssen auch zwischen Russland und dem Westen weitergehen. Niemand hat ein Interesse daran, dass die Sanktionen auf ewig bleiben. Ihre Konditionalität – also ihre rasche Rücknahme bei einer Beendigung des Krieges gegen die Ukraine – muss klar kommuniziert werden. Wir dürfen nicht wieder alle Mauern in Europa neu aufrichten und eine Lage geraten, die dann schlimmer als der Kalte Krieg werden könnte.
Wie wird es jetzt weitergehen? Gibt es noch eine Chance auf eine diplomatische Lösung?
Teschendorf: Russland hat sich dafür entschieden, seine Vorstellung einer europäischen Ordnung mit Gewalt durchzusetzen. Ich sehe nicht, wie in naher Zukunft mit einem Präsidenten verhandelt werden kann, der anderen Staaten ihre Existenzberechtigung abspricht und frei jeder faktischen Grundlage glaubt, eine Entnazifizierung in einem demokratischen Staat durchführen zu müssen.
Es ist aber wichtig im Kopf zu behalten, dass dieser Krieg nicht von der Bevölkerung Russlands getragen wird und dass es viele Experten, Journalistinnen, Intellektuelle gibt, die sich aktiv dagegen aussprechen. Dies ist die Grundlage dafür, dass wir in einer gerade sehr fern wirkenden Zukunft wieder die Verhandlungen aufnehmen können werden und eine Sicherheitsordnung finden könnten, die allen gerecht wird. Kurzfristig muss es die Aufgabe sein, deutlich zu machen, dass mit Gewalt erzwungene Veränderungen weder vorteilhaft noch von Dauer sein können.
Röthig: Aus meiner Sicht gibt es jetzt zwei mögliche Szenarien. Erstens: Es kommt zu einer schnellen Übereinkunft zwischen Russland und der Ukraine, einem Kompromiss, der beide Seiten gesichtswahrend aus der Lage herauskommen lässt. Das hieße für Russland, dass es seine erklärten Kriegsziele als erreicht betrachten könnte. Zum einen eine Entmilitarisierung der Ukraine, die alleine schon dadurch erreicht ist, dass in den letzten Tagen sehr viel an militärischem Potential des Landes zerstört worden ist. Dies eventuell verbunden mit der Versicherung der Ukraine, dass die Armee nicht mehr in dem Maße aufgerüstet bzw. keine westlichen Militärhilfen angenommen werden oder auch auf bestimmte Kalibergrößen verzichtet wird. Zum anderen ein Verzicht der Ukraine auf die NATO-Mitgliedschaft jetzt und in Zukunft. Und möglicherweise zusätzlich noch der Abtritt von ukrainischem Territorium bzw. der Anerkennung des Verlustes der Krim.
Gleichwohl gälte für dieses Szenario, dass derjenige, der diese Übereinkunft unterschreibt, innenpolitisch massiv unter Druck kommt. Bliebe Selenskyj im Amt, wäre er vermutlich den Angriffen der Opposition ausgesetzt, die ihn des Ausverkaufs der Ukraine beschuldigen würden. Die Stimmung könnte man sich dann vorstellen wie in Deutschland nach dem Abschluss des Versailler Vertrages. Es wäre ein Szenario, dass der Ukraine ein massives Blutvergießen ersparen könnte, sie aber innenpolitisch vor enorme Spaltungen stellen würde.
Das zweite Szenario wäre, dass es zu keiner Übereinkunft kommt, weil Russland auf Maximalforderungen besteht, die die Ukraine schlicht nicht eingehen kann. In der Folge kommt es zu einem langen, schlimmen Abnutzungskrieg mit zahlreichen Opfern auf beiden Seiten, mit Millionen Flüchtlingen, mit einem zerstörten Land und einem sich immer weiter vertiefenden Spalt zwischen Russland und dem Westen. Das ist sicherlich der schlimmstmögliche Fall.
Natürlich kann es noch zu gänzlich unerwarteten Entwicklungen kommen. Beispielsweise, dass man das Minsker Abkommen doch nochmal zum Tragen kommen lässt. Donezk und Luhansk erhielten einen Sonderstatus oder es käme zu einer Föderalisierung der Ukraine. Das wäre auch für Russland praktisch, da es mit den beiden Gebieten dann weiterhin Einfluss auf die Ukraine hätte.
Viele Dinge sind in den Verhandlungen noch möglich. Man sollte nie die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung ausschließen, auch wenn sie nur unter der Bedingung noch unvorstellbarer Konzessionen beider Seiten zustande kommen kann. Letztlich kann auch Russland kein Interesse an einer wachsenden Zahl gefallener Soldaten, einem wirtschaftlichen Zusammenbruch und zunehmenden innenpolitischen Spannungen haben.
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Dieser Beitrag erschien zuerst auf ipg-journal.de
leitet die Redaktion des IPG-Journals. Von 2017 bis 2021 war sie Sozialreferentin an der Deutschen Botschaft Washington. Zuvor leitete sie in Amman das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung für Jordanien und Irak.