Türkische Oppositionspartei HDP unter Beschuss
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Seit Monaten ist es im Gespräch, am Montag hat das türkische Verfassungsgericht ein Parteiverbotsverfahren gegen die türkische Oppositionspartei HDP eröffnet. Erdogans Bündnisparter Devlet Bahceli von der ultranationalistischen MHP forderte das seit langem, nun begrüßt er die Entscheidung: „Wenn wir das Gras ausreißen und die Wurzeln betrachten wird ans Tageslicht kommen, dass zwischen der HDP und der PKK keinerlei Unterschied besteht.“
Der Generalstaatsanwalt wirft der Partei Separatismus und Nähe zur verbotenen PKK vor, die auch von der EU als Terrororganisation gelistet wird. Neben einem Verbot der HDP fordert er ein Politikverbot für 451 ihrer führenden Mitglieder. Einen Antrag auf Sperrung des Bankkontos lehnte das Verfassungsgericht vorerst ab. Eine frühere Anklageschrift war wegen Formfehlern im März abgewiesen worden.
Was der HDP vorgeworfen wird
850 Seiten umfasst die eilig verfasste Anklageschrift. Um die angeblichen separatistischen Aktionen der Partei zu beweisen, wird aus tausenden von Reden und hunderten Anklageschriften gegen HDP-Mitglieder zitiert. Als zentraler Beweis gelten dabei Gesprächsprotokolle eines Besuchs der HDP-Führung beim inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan 2013. Allerdings erfolgte dieser Besuch damals mit dem Segen der Erdogan-Regierung, um den Friedensprozess mit der PKK in Gang zu bringen. Sogar Mitglieder des Geheimdienstes waren anwesend. Damals schätzte man die HDP als Vermittler – heute wird ihnen diese Rolle zum Verhängnis.
Ein weiterer zentraler Punkt in der Anklage sind die sogenannten Kobane-Prozesse. 2014 hatte die HDP zu Protesten gegen Ankaras Haltung im Kampf um Kobane aufgerufen, wo kurdische Milizen gegen den IS kämpften. Die Proteste in der Türkei eskalierten, über 50 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Staatsanwaltschaft ebenso wie die Erdogan-Regierung machen dafür die HDP verantwortlich. Die HDP hingegen erklärt, die meisten Opfer seien HDP-Anhänger gewesen, die von Sicherheitskräften erschossen wurden. Ihr Antrag auf eine umfassende parlamentarische Untersuchung der Ereignisse sei mehrmals vom Regierungsbündnis abgewiesen worden.
Tod einer HDP-Mitarbeiterin
Das jetzige Verbots-Verfahren ist der neue Höhepunkt einer Reihe unzähliger politischer und juristischer Angriffe auf die HDP in den letzten Jahren. So sitzen hunderte von HDP-Mitgliedern in Haft, darunter die einstige Führungsriege der Partei. Wohl weil die HDP, ein Bündnis aus kurdennahen und linken Parteien, noch vor wenigen Jahren als heftigste Kritiker der Erdogan-Regierung galt. So hält HDP-Co-Chef Mithat Sancar das neue Verfahren für durch und durch politisch motiviert. Die Anklageschrift sei nicht vom Staatsanwalt verfasst, sondern „von der MHP und dem Präsidentenpalast“. Das Verfassungsgericht habe mit der Annahme eine „historische Chance“ für die Demokratie verpasst, so Sancar.
Schon vergangene Woche wurde die HDP zur tragischen Zielscheibe: Am Donnerstag stürmte ein bewaffneter Ultranationalist ein Parteibüro der HDP in Izmir und erschoss die Mitarbeiterin Deniz Poyraz. Kurz zuvor war eine Vorstandssitzung mit 40 Personen am selben Ort abgesagt worden – der Täter wollte möglicherweise ein viel größeres Massaker anrichten. Kurz darauf kursierten Bilder des Täters im Netz. Auf einem ist er mit Kalaschnikow im Arm Nordsyrien zu sehen, auf einem anderen Foto trägt er ein Sturmgewehr, das türkische Spezialgruppen im Kampf gegen die PKK nutzen. Zudem ist zu sehen, wie der Täter das Handzeichen der grauen Wölfe formt, einer rechtsextremen Organisation unter dem Dach von Erdogans Bündnispartner MHP.
Die Opposition äußert sich kaum
Die HDP vermutet deshalb, dass der Angriff im Auftrag des Staates erfolgte. Das weckt böse Erinnerungen an Morde und Massaker gegen Minderheiten in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten. Nicht selten hatten die Täter klare Verbindungen zum türkischen Sicherheitsapparat. Staatspräsident Erdogan verurteilte den Mord und forderte eine umfassende Aufklärung. Das bleibt zu hoffen, wurden doch viele Morde ähnlichen Kalibers in der Türkei niemals ganz aufgeklärt. Daran erinnert sich auch Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der CHP, der größten Oppositionspartei des Landes und Schwesterpartei der SPD. Nach dem Anschlag twitterte er: „Wir kennen dieses Szenario aus vorangegangenen Jahren. Doch dieses Mal wird sich das Volk von solchen Provokationen nicht täuschen lassen.“
Allerdings belässt es die Opposition bei wenigen Worten und zeigt sich nicht geneigt, den abscheulichen Mord als politisches Druckmittel zu nutzen, kritisiert Autor Aydın Selcen auf dem regierungskritischen Internetportal Gazete Duvar: „Dieser apathischen Haltung der Opposition, die sich selbst 'demokratisch' nennt, liegt wohl die Sorge zugrunde, man werde das Volk auf die Straße treiben, den Notstand ausrufen und die Wahl verschieben“, so Selcen. „Von dieser Opposition kommt kein Ton, sie verläuft im Sande.“
Dabei ist HDP für den türkischen Oppositionsblock von großer Bedeutung. Mit ihr zusammen hat die Opposition reale Chancen, mehr als 50 Prozent der Stimmen und damit die Regierungsmehrheit zu erlangen. Die Kommunalwahlen 2019 bewiesen das: Die HDP unterstützte damals indirekt das Oppositionsbündnis und die CHP konnte so die Rathäuser von Istanbul, Ankara und weiterer Großstädte gewinnen.
Trotzdem scheut sich die CHP ein offenes Bündnis mit der HDP einzugehen oder lauthals die Angriffe auf die kurdennahe Partei zu verurteilen. Wohl weil sie fürchtet von der Regierung als Terrorunterstützer gebrandmarkt zu werden, andererseits aber auch, weil viele in ihren Reihe selbst sehr nationalistisch gesinnt sind. Das Schicksal der türkischen Opposition entscheidet sich genau in dieser Frage.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.