Türkische Kommunalwahlen: Denkzettel für Erdoğan
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Es war ein Wahlkrimi, wie ihn die Türkei selten erlebte. Bis in die Morgenstunden hinein blieb unklar, wer die wichtigste Stadt der Türkei, die 16-Millionen Metropole Istanbul, gewonnen hatte. Als sich am späten Sonntagabend ein Kopf-an-Kopf-Rennen abzeichnete zwischen Binali Yıldırım, Kandidat der Regierungspartei AKP, und Ekrem Imamoğlu von der republikanischen Volkspartei CHP, stoppte die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu stundenlang die Veröffentlichung neuer Wahlergebnisse. AKP-Kandidat Yildirim erklärte sich vorzeitig zum Wahlsieger und ließ Istanbul mit Dankes-Plakaten tapezieren. Sein Herausforderer Imamoğlu trat achtmal vor die Kamera und widersprach ihm heftig. Am Morgen bestätigte der Vorsitzender der staatlichen Wahlbehörde, was regierungstreue Medien seit Stunden verschwiegen: CHP-Kandidat Imamoğlu hat wohl mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen.
AKP will Stimmen neu auszählen lassen
Das ist freilich noch nicht das Ende des Krimis: Die AKP kündigte an, in Istanbul und Ankara Einspruch einzulegen, Stimmen neu auszählen zu lassen. In Ankara liegt der Vorspruch der CHP bei fast vier Prozent, dort wird sich das Ergebnis nur schwer ändern lassen. In Istanbul hingegen liegt der Vorsprung der Opposition nur bei 0,28 Prozent. Das wird Erdoğans AKP-Regierung wohl kaum auf sich sitzenlassen.
Eins jedoch steht fest: Erdoğan hat durch die Kommunalwahl einen herben Denkzettel verpasst bekommen. Obwohl fast alle Medien des Landes in der Hand regierungsnaher Konzerne sind und die der Opposition im Wahlkampf kaum Sendezeit zugestanden, obwohl Erdoğan die Gegenkandidaten mit Schmutzkampagnen überzog und ohnehin jeden Oppositionellen zum Terrorhelfer erklärte, obwohl tausende von Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern und Studenten aus politischen Gründen in Haft sitzen, konnte die Opposition die wichtigsten Städte des Landes für sich gewinnen. Zwar hat die AKP landesweit mit mehr als 44 Prozent die meisten Stimmen erzielt. Doch die wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Zentren der Türkei könnten von nun an von der Opposition regiert werden. Vor allem Istanbul hat dabei Symbolcharakter: Erdoğan selbst begann dort 1994 als Bürgermeister seinen politischen Aufstieg.
Regierungskritische Türken im Freudentaumel
Die Opposition hat mit diesem Wahlergebnis bewiesen, dass sie noch immer präsent und stark ist. Viele regierungskritisch eingestellte Türken sind derzeit im Freudentaumel – wenn auch noch verhalten. Viele AKP-Anhänger hingegen blicken entsetzt auf das Wahlergebnis, kaum jemand hatte mit so einem Ausgang gerechnet. Mit einer Wahlbeteiligung von über 84 Prozent hat das türkische Volk gezeigt, wie wichtig ihnen ihre Demokratie ist – daran können sich so manche EU-Länder ein Vorbild nehmen.
Die Taktik der CHP ging diesmal auf. Statt wie Erdoğan auf Polarisierung zu setzen, schlug sie versöhnliche Töne an und setze auf Partnerschaften. Zum einen ging sie ein Wahlbündnis ein der Mitte-Rechts-orientierten İyi Parti ein. Zum anderen wurde sie von vielen kurdischen Wählern unterstützt. Die pro-kurdische Partei HDP stellte in den meisten Metropolen keine eigenen Bürgermeisterkandidaten auf, sondern forderte ihre Wähler indirekt auf, das Bündnis der Opposition zu unterstützen. Erdoğan versuchte zwar, die CHP deswegen als Helfer der kurdischen Terrormiliz PKK darzustellen – genützt hat ihm das aber scheinbar nicht. Istanbul-Kandidat Imamoğlu hingegen hütete sich vor Anti-Erdoğan-Rhetorik und betonte immer wieder, dass er auf gute Zusammenarbeit hoffe.
Viel zu tun für neue Regierungen
Tatsächlich gibt es viel zu tun. Die Türkei leidet unter einer starken Wirtschaftskrise, Inflation und Arbeitslosigkeit sind enorm hoch. Die neuen Kommunalregierungen werden daran vielleicht nur wenig ändern können. Doch sie können Regierungsgegnern eine Stimme geben, sie können auf demokratische Reformen pochen, vielleicht die AKP-Regierung zu einem Kurswechsel verhelfen und damit Investoren das Vertrauen in den türkischen Staat zumindest ein Stück zurückgeben.
Entscheidend ist nun, wie die AKP mit den Ergebnissen umgeht. Sie fordert derzeit, vor allem ungültige Stimmen neu auszählen zu lassen – allein in Istanbul sind das mehr als 300.000 Stimmen. Das ist ihr gutes Recht. Zugleich betont sie, dem endgültigen Wahlergebnis Respekt zollen zu wollen, egal wer als Sieger hervorgehen wird. Das sollten sie auch beherzigen – allenfalls steht der soziale Frieden des Landes auf dem Spiel.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.