Türkisch-russische Rivalität: Wie wahrscheinlich ist eine militärische Konfrontation?
Noch vor zwei Monaten sahen sich Erdoğan und Putin als Partner. 2012 wurde die Türkei Dialogpartner der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit, der auch Russland angehört, 2013 bekräftigte Erdoğan Interesse an einer Mitgliedschaft. Eine strategische Achse Ankara-Moskau schien möglich.
Intensivierung türkisch-russischer Beziehungen
In den letzten Jahren haben sich die politischen, militärischen, vor allem aber die wirtschaftlichen Beziehungen intensiviert. Türkei unterstützte Russlands Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation und der Organisation für Islamische Zusammenarbeit. Streitkräfte beider Länder führten gemeinsame Militärmanöver durch, Nachrichtendienste kooperierten, es wurden sogar gemeinsame Trainings- und Ausbildungsprogramme organisiert.
Getrieben vom zwischenstaatlichen Handel, der von 5 Milliarden US-Dollar im Jahr 2002 auf über 31 Milliarden im Jahr 2014 anstieg, kamen sich Türkei und Russland auch gesellschaftlich näher. Im Jahr 2010 wurde auf beiden Seiten die Visapflicht abgeschafft, 2014 besuchten über 4 Millionen russische Touristen die Türkei.
Die Hauptrolle im türkisch-russischen Handel spielen die Gaslieferungen – die Türkei bezieht über die Hälfte ihrer Gasimporte aus Russland. Vereinbart wurde mit Russland auch der Bau des ersten Atomkraftwerkes der Türkei, der jedoch nach dem Abschuss des russischen Kampfjets aufgekündigt wurde. Weitere Sanktionen gegen die Türkei stehen auf der Tagesordnung. Zum Jahreswechsel soll die Visafreiheit für türkische Staatsbürger aufgehoben und die Einfuhr bestimmter Produkte aus der Türkei eingeschränkt werden. Die russisch-türkischen Beziehungen befinden sich an einem historischen Tiefpunkt. Wie ist das zu erklären?
Tiefe Interessengegensätze
Die Kompromisslosigkeit der autoritär regierenden Putin und Erdoğan sowie deren außenpolitische Ambitionen sind keine hinreichenden Erklärungen. Die Ursache für den gegenwärtigen Konflikt liegt in den Interessengegensätzen – die Weltmacht Russland und die selbstbewusste Türkei möchten ihre Einflusssphären im Kaukasus und im Nahen Osten weiter ausbauen. Während die Unterstützung Armeniens und die Anerkennung des armenischen Genozids durch Russland für Unmut in der Türkei sorgten, betrachtete Russland die Beziehungen der Türkei zu Turkstaaten und den Krimtataren mit Misstrauen. In Syrien setzt die Türkei auf einen Regimewechsel, Russland hingegen unterstützt den syrischen Staatspräsident Bashar Al-Asad auch militärisch.
Die Türkei steht in der Kritik, weil sie in Syrien auf Alleingang setzte, ihre Grenzen nicht effektiver kontrollierte und sich im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) zurückhielt. Nach den Pariser Terroranschlägen ist die Türkei zusätzlich unter internationalen Druck geraten. Diese Entwicklungen und Frankreichs Suche nach einer Kooperation mit Russland gegen den IS hat Putin möglicherweise zu einem harten Durchgreifen gegen die syrische Opposition und einem Konfrontationskurs mit der Türkei ermutigt. Umgekehrt hätte die Türkei ohne den Putin-Überdruss im Westen defensiver gehandelt.
Starker Impuls
Russlands Revisionismus ist eine Herausforderung für die bestehenden staatlichen Grenzen. Die Türkei wiederum will bestehende Staatsgrenzen erhalten und einen kurdischen Nationalstaat, der auf türkisches Territorium übergreift, verhindern. Es ist zu erwarten, dass Russland über Armenien und die Kurden Druck auf die Türkei ausübt. Eine direkte militärische Konfrontation ist nahezu ausgeschlossen.
Zu intensiv sind erstens die wirtschaftlichen Interdependenzen, und eine Aussetzung der Gaslieferungen würde auch Russland schaden. Zweitens würde eine unmittelbare Aggression Russlands gegenüber der Türkei eine direkte Konfrontation mit der NATO mit sich bringen. Umgekehrt wird die Türkei die NATO nicht in einen militärischen Konflikt mit Russland verwickeln können.
Der Konflikt mit Russland ist ein starker Impuls für die Türkei, ihre Bindungen zu NATO und EU zu stärken und weiter auf die Autonomieregion Kurdistan in Nordirak zuzugehen. Für die EU eröffnet sich die Chance, auf die Türkei einbindend einzuwirken. Dazu müsste sie aber der Türkei nicht nur eine klare Beitrittsperspektive anbieten, sondern sich auch klarer gegen den Demokratieabbau positionieren.