Türkei: Wirft die EU für sichere Grenzen ihre Werte über Bord?
In der Türkei ist es um Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte nicht gut bestellt. Gravierende Verletzungen der Prinzipien des Rechtsstaates und der Gewaltenteilung sowie Verstöße gegen Meinungs- und Pressefreiheit und Minderheitenrechte sind an der Tagesordnung. Die Bemühungen um eine friedliche Lösung im Kurdenkonflikt sind fehlgeschlagen, die Gewalt zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK-Kämpfern eskaliert und droht aus dem Ruder zu laufen.
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Warum gerade jetzt?
Dessen ungeachtet sind sich Brüssel und Ankara näher gekommen. Die EU hat kürzlich das Kapitel »Wirtschafts- und Finanzpolitik« zu Verhandlungen eröffnet, Anfang 2016 sollen fünf weitere Kapitel folgen. Dabei wird es um die Bereiche Energie, Grundrechte, Justiz und Sicherheit, Bildung und Kultur sowie um die Außen- und Sicherheitspolitik gehen. Warum stören Demokratieabbau und Menschenrechtsverletzungen die EU nicht, die in den vergangenen Jahren insgesamt acht Kapiteln blockiert hat, weil die türkische Regierung viele Vorgaben nicht umsetzen wollte?
Die Antwort liegt in der zweifachen Existenzkrise, in der sich die EU befindet. Die europäische Wirtschafts- und Finanzkrise sowie Kontroversen über Lösungsansätze zu ihrer Überwindung haben die EU intern gespalten. Die Flüchtlingskrise stellt für die EU eine weitere Belastungsprobe dar. Es löst zwischen den Mitgliedsstaaten Kontroversen über eine angemessene Integrationspolitik und Einwanderungssteuerung aus und gefährdet so die politische Kohärenz der Union.
Grenzsicherung statt Demokratie
In diesem Klima setzt Brüssel statt auf Demokratie auf Sicherheit und umwirbt die Türkei für eine Politik der verstärkten Grenzsicherung. So hat die EU ihren jährlichen Fortschrittsbericht nicht rechtzeitig, sondern erst nach den türkischen Parlamentswahlen veröffentlicht, um Verstimmungen mit der türkischen Regierung zu vermeiden.
Verständigt haben sich Brüssel und Ankara nun auf einen Aktionsplan: Die Türkei soll eine effektivere Grenzsicherung leisten, um die irreguläre Einwanderung nach Europa einzudämmen, womit sie bereits begonnen hat: Polizei und Küstenwache patroullieren schärfer, führen Migranten ab und nehmen Menschenschmuggler fest. Taxifahrern wird mit dem Entzug ihrer Lizenz gedroht, wenn sie Migranten in den Buchten gegenüber den Ägäisinseln absetzen. Im Gegenzug erhält Ankara drei Milliarden Euro, um die Flüchtlinge im Land besser zu versorgen, sowie Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger.
EU-Anbindung ja, aber nicht um jeden Preis
Vom Laissez-faire der letzten Monate ist in der Türkei nicht viel übriggeblieben, womit sie sich der Kritik von Menschenrechtlern aussetzt. Amnesty International wirft der Türkei Verstöße gegen internationales Recht vor und fordert eine kritische Überprüfung der türkisch-europäischen Zusammenarbeit.
Angesichts der Bürgerkriege in der Nachbarschaft, des Flüchtlingschaos und der Eskalation der Gewalt mit der kurdisch-nationalistischen PKK ist eine engere Anbindung der Türkei an die EU heute wichtiger denn je. Pragmatismus ist dabei nicht der schlechteste Ratgeber. Doch daraus leitet sich nicht ab, bei Fragen der Grundrechte zu schweigen. Die EU muss gegenüber Ankara und gleichzeitig der PKK deutlich machen, dass das unverhältnismäßige Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen rechtsstaatliche Grundprinzipien verstößt, dass Terrorismus und bewaffneter Aufstand keine Lösung sind.
Erwartet die EU von der Türkei alleine die Rolle eines Gatekeepers, gefährdet sie ihre Glaubwürdigkeit als eine Wertegemeinschaft und gibt ihre Chance aus der Hand, auf die Türkei demokratisierend und stabilisierend Einfluss zu nehmen.