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Türkei: Wie Präsident Erdoğan Flüchtlinge als Druckmittel missbraucht

Immer wieder droht Recep Tayyip Erdoğan mit dem Ende des Flüchtlingspakts zwischen der Türkei und der EU. Er spielt mit dem Schicksal der Menschen. Auch im türkischen Inland setzt er geflüchtete Syrer für seine Zwecke ein – mit Hilfe der EU.
von Paul Starzmann · 23. Mai 2017
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Recep Tayyip Erdoğan hat ein Ass im Ärmel: die unzähligen Kriegsflüchtlinge in seinem Land. Will der türkische Präsident Druck auf Europas Regierungen ausüben, muss er nur damit drohen, den EU-Flüchtlingsdeal aufzukündigen. Dann würden wieder zehntausende Menschen über Griechenland nach Europa fliehen – ein Szenario, das Deutschland und die europäischen Regierungen unbedingt verhindern wollen.

Wird Erdoğan den Flüchtlingsdeal beenden?

Dass der türkische Staatschef ernst macht und die Zusammenarbeit mit der EU beendet, ist nicht auszuschließen – sehr wahrscheinlich sei dies aber nicht, sagt Günter Seufert, Türkei-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er geht davon aus, dass Erdoğan in der Flüchtlingspolitik „eher den Hahn auf- und zudrehen wird, als die Kooperation ganz zu beenden“.

Der Grund: Auch die türkische Seite ist auf das Abkommen angewiesen. Mit knapp 1,6 Millionen geflohenen Menschen hat die Türkei aktuell mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land. Die Regierung in Ankara kann das Geld gut gebrauchen, das Brüssel seit Frühjahr 2016 für die Versorgung der Geflüchteten überweist. Drei Milliarden Euro hat die EU dafür versprochen.

Finanziert die EU Wohnungen für Djihadisten?

Die EU-Finanzhilfen setzt Präsident Erdoğan gezielt ein: Oft lässt er genau dort Flüchtlingslager bauen, wo die Gegnerschaft zu seiner Politik am größten ist – und lässt seine Kritiker damit den Druck spüren. Nicht selten errichte die Regierung „planvoll Flüchtlingslager in primär alevitischen Siedlungsgebieten“, sagt Seufert. Die religiöse Minderheit der Aleviten gilt als besonders AKP-kritisch. Ihr Glaube unterscheidet sich zum Teil stark vom Islam sunnitischer Ausprägung. Die SPD-Bundestagsabgeordnete Cansel Kızıltepe meint: „Man könnte den Eindruck gewinnen, dass Erdoğan die Herausforderungen den Aleviten auferlegen will.“

Ein Beispiel dafür ist das Dorf Terolar in der osttürkischen Provinz Maraş: Der Ort ist von der Außenwelt abgeschnitten, Polizisten haben die kleine Gemeinde umstellt. „Man kann da von außen gar nicht rein“, sagt Cemalettin Özer von der türkischen Oppositionspartei CHP. Der Grund: Seit einem Jahr protestieren einige hundert Bürger gegen ein neues Lager in der Nähe, in das wohl auch EU-Gelder fließen. Knapp 30.000 Syrer sollen dort nach den Plänen der Regierung unterkommen – darunter seien auch Kämpfer der islamistischen Al-Nusra-Front, befürchten die Dorfbewohner. Als Aleviten haben sie Angst, die nächsten Opfer der Djihadisten zu sein.

Erdoğan geht über die Aleviten hinweg

Ihre Sorgen scheinen nicht unberechtigt – immer wieder kommt es in der Türkei zu Gewalt gegen Aleviten. Die Täter sind häufig islamistische Fanatiker. Dass nun auch noch Al-Nusra-Kämpfer über die Grenze aus Syrien kommen, hält auch der Türkei-Experte Günter Seufert für nicht unwahrscheinlich. Erdoğan habe lange mit den Djihadisten zusammengearbeitet, sagt er. So gesehen überrascht es nicht, wenn syrische Islamisten in türkischen Flüchtlingscamps Unterschlupf suchen.

Was die Aleviten in der Türkei dazu sagen, scheint Erdoğan nicht zu interessieren. Sie seien für die AKP-Regierung „insofern Manövriermasse, als auf ihre Interessen wenig Rücksicht genommen werden muss, da sie die AKP ohnehin nicht wählen“, meint Seufert. Melek Yıldız von der Alevitischen Gemeinde Deutschland kennt das Problem: Die Regierung gehe konsequent über die Interessen der religiösen Minderheit hinweg – nicht erst seitdem sie sunnitische Flüchtlinge in alevitische Dörfer schickt. Schon länger lasse Erdoğan alevitische Gebetsstätten abreißen und an deren Stelle sunnitische Moscheen bauen, klagt Yıldız. Manche geben dem Druck nach, geben ihre Häuser auf und ziehen weg – ihr Besitz wird wohl längerfristig in die Hände der sunnitischen Mehrheit fallen.

Dersim 1938: Zehntausende tote Aleviten

Dass Aleviten unter die Räder der türkischen Regierung geraten, ist nicht neu. Viele erinnern sich an die Massaker in der ostanatolischen Provinz Dersim (heute offiziell: Tunceli), wo zwischen 1937 und 1938 Zehntausende getötet wurden. „Wir Aleviten kennen die Politik gegen die Aleviten,“ sagt Kemal Karabulut, Generalsekretär der Föderation der Dersim-Gemeinde Europas. Aktuell nutze die türkische Regierung die Flüchtlingssituation aus, um die „Sunnitisierung“ des Landes voranzutreiben – mit Geld der EU und auf Kosten der AKP-kritischen Aleviten.

Bei aller Kritik an dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei wollen die beiden Aktivisten Yıldız und Karabulut aber nicht falsch verstanden werden: Natürlich müsse den Geflüchteten aus Syrien geholfen werden, sagen sie. „Den Menschen zu helfen ist zentral in der alevitischen Lehre“, so Yıldız. Allerdings müsse die EU ihre Zusammenarbeit mit der Türkei dringend überprüfen – und vor allem sicherstellen, „dass die Hilfe an den richtigen Stellen ankommt“.

Autor*in
Paul Starzmann

ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.

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