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Türkei: Wie die Inflation Student*innen ins Ausland treibt

Die türkische Hyperinflation trifft die Jugend des Landes hart. Besonders Student*innen geraten zunehmend in Not, träumen massenhaft davon ins Ausland auszuwandern. Ein zunehmendes Problem für Präsident Erdoğan.
von Kristina Karasu · 1. Januar 2023
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Eine Stunde Fahrt mit Bus und U-Bahn nimmt Mustafa Murat Görmüs jeden Tag auf sich – für eine kostenlose Suppe. Der 18-jährige Istanbuler Schulabsolvent bereitet sich auf seine Universitätsaufnahmeprüfung vor, zuhause bei seinen Eltern ist es zu laut und eng zum Lernen. Also fährt er jeden Tag zur Fatih-Bibliothek im historischen Teil Istanbuls, dort gibt es für Schüler*innen und Studenten*innen kostenlos Suppe und Tee.

Doch wie immer hat sich davor eine lange Schlange gebildet, Mustafa weiß nicht, ob er heute noch hineingelassen wird. „Alles ist so teuer geworden, selbst ein billiges Mittagessen kann ich mir nicht mehr leisten“, erzählt er. Allein der Preis für Unterrichtsbücher habe sich im vergangenen Jahr fast verdreifacht.

Millionen leiden unter der Hyperinflation

Neben ihm in der Schlange wartet die 19-jährige Informatikstudentin Damlanur Özcan, sie treibt ähnliche Sorgen um. Sie geht neben dem Studium arbeiten, schläft deshalb nachts nur vier bis fünf Stunden. Reichen tut es trotzdem nicht. Um im Studium weiterzukommen, bräuchte sie dringend einen neuen Computer – für sie vollkommen illusorisch. Selbst Konzertbesuche oder einen Kaffee mit Freunden könne sie sich seit Monaten nicht mehr leisten. „Wir leben nicht, wir halten uns nur über Wasser“ sagt sie.

Murat Görmüs und Damlanur Özcan sind kein Einzelfall – Millionen junge Menschen in der Türkei leiden derzeit unter der Hyperinflation von offiziell knapp 85 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Unabhängige Analysten halten den wirklichen Inflationswert sogar für weit höher. Mietpreise in Istanbul etwa haben sich in den letzten zwei Jahren mehr als verdreifacht. Die meisten jungen Türk*innen bleiben deshalb notgedrungen bei ihren Eltern wohnen – selbst wenn sie arbeiten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Türkei bei knapp 30 Prozent, und selbst viele Absolvent*innen von Eliteuniversitäten müssen sich mit schlechtbezahlten Jobs begnügen.

Das Vertrauen in die Politik ist gering

Laut einer Meinungsumfrage des türkischen Soziologieabsolventenvereins unter 18- bis 35-Jährigen sind Wirtschaft, Justiz und Bildung die größten Problemfelder des Landes. 82,4 Prozent der jungen Menschen gaben an, dass sich ihr Lebensstandard im vergangenen Jahr verschlechtert hat. Das Vertrauen in die Politik ist gering: 81,6 Prozent hegen keine Hoffnung auf Besserung durch die aktuellen politischen Parteien.

Viele junge Türk*innen sehen als Ausweg nur noch das Auswandern. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2021 wollen 72,9 Prozent der jungen Türk*innen am liebsten im Ausland leben. So auch Informatikstudentin Damlanur. Sie weiß: In der EU sind Informatikerinnen heiß begehrt und werden gut bezahlt. Ebenso sind im vergangenen Jahr so viele türkische Ärzt*innen wie nie ausgewandert. Ein Großteil der türkischen Medizinstudent*innen belegt schon im ersten Semester Deutsch- oder Englischkurse. Im Messengerdienst Telegram haben sich hunderte von Gruppen mit Titeln wie „Auswanderungswillige Türken“ gegründet, täglich kommen neue Mitglieder*innen dazu. Ein Brain-Drain von enormem Ausmaß. 

Erdoğan geht in die Offensive

Eine ganze Generation blickt pessimistisch in die Zukunft – darunter sechs Millionen Erstwähler*innen. Viele junge Türk*innen fühlen sich von der Regierung vernachlässigt, die Jahre des wachsenden Wohlstands unter Erdoğan sind lange vorbei. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes ORC von Anfang Dezember wollen nur 13,6 Prozent der Generation Z bei der nächsten Wahl für Erdoğans AKP stimmen.

Das weiß auch der Präsident – und hat zu einem gigantischen Jugendprogramm vor den nächsten Wahlen im Juni 2023 aufgerufen. So veranstaltete seine AKP Mitte Dezember in Istanbul zeitgleich 39 Wahlveranstaltungen unter dem Titel „Meine erste Stimme an Erdoğan, meine erste Stimme an die AKP“. Jugendvertreter der AKP versprachen dort den Besucher*innen, alle ihre Wünsche und Vorstellungen an Präsident Erdoğan weiterzuleiten. Wer im Land das Sagen hat, verhüllte dort niemand.

Die Opposition wittert ihre Chance

Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu dagegen betonte wenige Tage später in Antalya, sein Oppositionsbündnis wolle die Demokratie zurückzubringen: „Wenn Demokratie in dieses Land kommt, werden die Menschen satt werden und ihre Gedanken frei äußern können. Alles beginnt mit der Demokratie“, so der Parteiführer der säkularen CHP, Schwesterpartei der SPD. Mit der Demokratie werde die Wirtschaft gesunden, moderne Technologien, Wachstum und eine gute Bildung folgen, so Kılıçdaroğlus Versprechen.

Großstädte wie Istanbul, Ankara und Izmir, die bereits von der Opposition regiert werden, umwerben junge Menschen mit günstigen Tickets für den öffentlichen Nahverkehr, neuen Studentenwohnheimen und Bibliotheken, Festivals und Konzerten. Das kommt gut an – ist aber oft nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Auch Städte oder Stadtteile, die von Erdoğans AKP regiert werden, bringen vermehrt Jugendprojekte auf den Weg, etwa günstige Schwimmkurse oder eben die kostenlose Suppe in der Bibliothek von Fatih. Doch solange es den jungen Menschen an einer Zukunftsperspektive fehlt, dienen solche Projekte allenfalls dazu, die Symptome der Krise zu mildern.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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