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Türkei: Wie die Erdoğan-Regierung kritische NGOs auf Linie bringt

Der Fall des monatelang in Istanbul inhaftierten Menschenrechtlers Peter Steudtner sorgte für großes Aufsehen. Dabei war er nur die Spitze des Eisberges. NGOs werden in der Türkei systematisch unterdrückt. Wer sich für Menschenrechte einsetzt, kann nur noch mit EU-Geldern überleben.
von Kristina Karasu · 23. November 2017
PPräsident Recep Tayyip Erdogan: Er schaltet die Opposition aus - Schritt für Schritt.
PPräsident Recep Tayyip Erdogan: Er schaltet die Opposition aus - Schritt für Schritt.

Er gilt als Symbolfigur der türkischen Zivilgesellschaft: Osman Kavala, angesehener Istanbuler Geschäftsmann und Kulturförderer. Seit Jahren setzt er sich mit seinem Geld und Engagement für Minderheiten, Kulturaustausch und Frieden ein. Seine Stiftung „Anadolu Kültür“ ist in der Türkei beispiellos.

Die Hoffnung auf Demokratie verloren

Er finanzierte den Workshop nahe Istanbul, an dem Peter Steudtner im vergangenen Juli als Referent teilnahm. Regierungsnahe Medien hatten Kavala seit Monaten ins Visier genommen, diffamierten ihn als Terrorhelfer und Agenten ausländischer Mächte. Seine Verhaftung war nur eine Frage der Zeit. Am 19. Oktober wurde er am Flughafen Istanbul festgenommen, da kam er gerade von einem Treffen mit Vertretern des Goethe-Institutes. Zwei Wochen später wurde er trotz zahlreicher Appelle aus dem In- wie Ausland in Untersuchungshaft genommen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm Beteiligung am Putschversuch vom 15. Juli 2016 und die Organisierung der Gezi-Proteste 2013 vor. Beweise gibt es bisher so gut wie keine. „Mit der Haftanordnung haben wir nicht nur Osman Kavalas Freiheit verloren, sondern auch unsere Hoffnung auf Demokratie, Frieden und Rechtsstaatlichkeit“, sagt seine Ehefrau, die Professorin Ayşe Buğra.

Mit ihren Worten trifft sie den Nerv der Zeit. Die Stimmung in vielen Nichtregierungsorganisationen ist von Pessimismus geprägt, sagt eine Projektmanagerin, die anonym bleiben will: „Viele sagen mir: wir kämpfen gegen Windmühlen. Es ist kaum möglich, derzeit etwas an den Verhältnissen zu ändern.“ Viele ihrer Mitstreiter seien in den letzten Monaten ins Ausland gezogen, aus Perspektivlosigkeit und Angst.

Die Bevölkerung traut sich kaum noch zu spenden

Zudem wurden Tausende von NGOs seit Ausrufung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 verboten. Darunter viele kurdische Organisationen und solche, die der Gülen-Bewegung nahestehen. Letztere macht Ankara für den Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich. Aber auch Frauenhäuser, Umweltinitiativen oder der angesehene Verein „Gündem Çocuk“, der Kinderrechte verteidigt und vor Gericht gegen Kinderehen kämpft. Unter den geschlossenen NGOs mögen einige sein, die ihre Organisation für verfassungswidrige Zwecke missbraucht haben. Doch die massenhaften Schließungen verhüllen die schwarzen Schafe eher als sie zu zeigen.

Ungehindert arbeiten kann nur noch, wer sich unverfänglichen Themen wie Menschen mit Behinderung oder Gesundheit widmet, erklärt die Projektmanagerin. Doch wer sich für Menschenrechte und Demokratie einsetze, auf den werde immenser Druck ausgeübt: „Staatliche Fördergelder gibt es für solche Organisationen nicht mehr, und auch die Bevölkerung traut sich kaum noch zu spenden. Die meisten dieser NGOs können nur noch mit EU-Fördergeldern überleben.“ Doch wer Gelder aus dem Ausland annimmt, wird schnell von Medien und Gerichten beschuldigt, für feindliche Mächte zu arbeiten. Ein wirksames Einschüchterungsmittel.

„Die Rechte von 100.000 Menschen verletzt“

Dabei ist Menschenrechtsarbeit in diesen Tagen nötiger den je, betont die Türkei-Repräsentantin von „Human Rights Watch“ Emma Sinclair-Webb: „Diese Angriffe auf legitime Menschenrechtsarbeit verbreiten die Botschaft, dass die Regierung keinerlei Überprüfung ihrer Politik will. Dabei wissen wir, dass im letzten Jahr die Rechte von 100.000 Menschen verletzt wurden. Es gibt so viele Fälle, dass wir oft gar nicht wissen, wo wir anfangen sollen.“

Zudem steckt hinter den Angriffen die Paranoia der Regierung vor der Zivilgesellschaft. Eine einst lebendige Zivilgesellschaft, die in den 2000er Jahren auch durch den damaligen EU-Kurs der AKP-Regierung einen Boom erlebte. Doch die landesweiten Gezi-Proteste von 2013, die hauptsächlich von zivilgesellschaftlichen Gruppen getragen wurden und sich gegen die Regierung richteten, markierten den Höhe- wie auch Wendepunkt dieser Entwicklung: „Die Regierung sieht die NGOs als eine Hauptbedrohung, weil sie eine Sicht oder Ideen verbreiten können, die nicht von der Regierung kontrolliert werden. Und sie mögen keine Dinge, die sie nicht kontrollieren können“, so Sinclair-Webb.

Erdoğans Tochter bekommt Geld von der Regierung

Im Gegenzug versucht die Regierung, die Zivilgesellschaft nach ihren eigenen Vorstellungen zu gestalten. Staatliche Projektförderungen werden seit einem Jahr nicht mehr ausgeschrieben, klagen NGOs. Stattdessen will die Regierung mit dem Geld lieber eigene Projekte zu realisieren und setzt auf regierungstreue Organisationen. Ein bekanntes Beispiel ist die Frauenstiftung „KADEM“: Erdoğans Tochter Sümeyye ist stellvertretende Vorsitzende, im Vorstand tummeln sich Verwandte und Vertraute der Familie. Die Stiftung ist mit üppigen Geldmitteln ausgestattet und eröffnet Büros im ganzen Land. Für Sinclair-Webb repräsentiert „KADEM“ einen problematischen Trend: „Jeder soll mit einer Stimme sprechen, die Regierung will keine Pluralität der Stimmen.“

Viele türkische Stimmen mögen damit für eine Weile leiser werden; verstummen werden sie jedoch kaum.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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