Türkei: Wie das neue Lieferkettengesetz auf die Textilbranche wirkt
imago/Le Pictorium
Gigantische, hochautomatische Fabriken, die täglich Tausende von Hosen oder T-Shirts für Marken wie Zara, Adidas oder Hugo Boss produzieren – mit solchen Bildern schmückt sich die türkische Textilbranche. In den ersten elf Monaten 2022 exportierte der Sektor Waren im Wert von 30,9 Milliarden Dollar ins Ausland, insbesondere nach Deutschland. Er profitiert von jahrelanger Erfahrung, Flexibilität und der Nähe zu Europa – das hat sich vor allem in der Pandemie bewährt.
Seit die türkische Lira in den vergangenen Jahren gegenüber dem Euro massiv an Wert verloren hat, ist es noch lukrativer geworden, hier produzieren zu lassen. So beträgt der türkische Mindestlohn 5500 türkische Lira, umgerechnet gerade einmal 280 Euro. (zum 1. Januar soll er auf 8500 TL netto angehoben werden, was etwa 425 Euro entspricht). Doch das ist nur die eine Seite der türkischen Textilindustrie.
Elf Stunden Arbeit am Tag
Die andere Seite zeigt sich etwa im Istanbuler Arbeiterviertel Bagcilar. Hier beherbergt fast jedes Haus, fast jeder Keller eine Textilwerkstatt. In einem Familienbetrieb reihen sich Tische mit Nähmaschinen aneinander, in der Ecke türmen sich Stoffbahnen, eine Heizung gibt es nicht. Im Akkord nähen hier Arbeiter*innen Damenhosen. In ihren Ohren stecken Kopfhörer, um den ohrenbetäubenden Lärm der Maschinen mit Musik zu übertönen.
„Wir arbeiten von morgens acht bis abends um sieben“, sagt Arbeiter Zeki. Das sei noch vergleichsweise gut – üblich in der Gegend seien zwölf Stunden Arbeitszeit. Chef Ali betont, dass er seine Mitarbeiter*innen weit über dem Mindestlohn bezahle. Eine syrische Flüchtlingsfrau erklärt hingegen, dass sie nur 4800 Lira verdient, weniger als der Mindestlohn. Sozialversichert ist sie nicht. Trotzdem dankt sie ihrem Chef für seine Großzügigkeit. Und während an der Wand Schilder warnen, dass Kinderarbeit verboten ist, sitzt auch ein 14-jähriger Flüchtlingsjunge an einer Maschine. Zur Schule geht er schon seit vier Jahren nicht mehr. Der Chef spielt das herunter: „Im Textilsektor haben wir hier alle im Kindesalter zu arbeiten angefangen“, erklärt er.
Mehr als die Hälfte arbeitet schwarz
Legal ist das alles nicht: in der Türkei ist Kinderarbeit ebenso verboten wie Schwarzarbeit, die gesetzliche Arbeitszeit liegt bei maximal 45 Stunden pro Woche. Trotzdem sind Zustände wie in der Werkstatt in Bagcilar keine Ausnahme, sondern die Regel, sagt der Textilaktivist Bego Demir von der Initiative „Clean Cloth Campagin“. So arbeiten geschätzt mehr als die Hälfte der Beschäftigten in der Branche schwarz. Nicht nur in der Türkei, sondern auch vielen anderen Billiglohnländern, die Textilen produzieren.
Zwischen Fassade und Wirklichkeit der Branche liegen Welten. So schließen globale Marken ihre Verträge meist mit großen Zuliefererfirmen ab, in deren Fabriken ordentliche Zustände herrschen. Doch nur ein Bruchteil der Produkte werde hier hergestellt, erklärt Demir: „Fast alle Zulieferer arbeiten mit Subunternehmen zusammen und die wiederum mit anderen Subunternehmen.“ So können sie wesentlich billiger und schneller produzieren – insbesondere in Hochphasen der Modesaision.
Dabei mangelt es an Transparenz, klagt Demir: „In unseren Recherchen haben wir uns etwa die Lieferkette weltbekannter großer Marken untersuchen. Im Allgemeinen legen die Marken nur die Hälfte ihrer Lieferkette offen und die andere Hälfte nicht.“ Die kleineren Werkstätten mit ihren oft katastrophalen Arbeitsbedingungen am Ende der Lieferkette verschweigen globale Marken gerne – oder sagen, sie wüssten nichts von ihnen. Gleichzeitig begünstigen sie mir ihrer oft aggressiven Preispolitik dieses System.
Ein bunter Fluss, der stinkt
Was Marken wie Zulieferer zudem gerne verschweigen: Selbst angestellte Arbeiter*innen kommen angesichts der Hyperflation in der Türkei von offiziell knapp 85 Prozent auch mit dem gesetzlichen Mindestlohn nicht über die Runden. Die Armutsgrenze für eine alleinstehende Person liegt derzeit doppelt so hoch wie der Mindestlohn.
Problematisch ist ebenso das Thema ökologische Nachhaltigkeit: Kaum ein Sektor weltweit verbraucht so viele Wasser wie der Textilsektor. Dazu setzt er eine Menge schädlicher Chemikalien ein, etwa um Jeans zu bleichen. Berühmt-berüchtigt ist der Fluss Ergene in der Region Tekirdag westlich von Istanbul, wo viele große Textilfabriken angesiedelt sind. Fische schwimmen hier schon lange nicht mehr, stattdessen stinkt der Fluss. Das Wasser ist mal trüb, mal in bunten Farben gefärbt, erklärt Demir: „Eigentlich müssen alle Textilfabriken hier ein Filtersystem haben. Aber das zu betreiben ist teuer. Wenn die Produzenten keinen angemessenen Preis für ihr Produkt bekommen, kann es passieren, dass eine Fabrik ihre Abwässer ohne Verwendung eines Filters in den Kanal gibt“, so der Textilaktivist.
Staatliche Kontrolleure, das ist ein offenes Geheimnis in der Türkei, kommen am liebsten mit Ankündigung – da bleibt genügend Zeit, noch die Filteranlage einzuschalten oder minderjährige Arbeiter*innen nach Hause zu schicken.
2023 als Probephase
Mit dem neuen deutschen Lieferkettengesetz soll sich all das ändern. Ab dem 1. Januar 2023 müssen deutsche Firmen ab 3.000 Mitarbeiter*innen nun dafür sorgen, dass es in ihrer gesamten Lieferkette zu keinen Menschenrechtsverletzungen und Umweltsünden kommt. Sie müssen zunächst ihre unmittelbaren Zulieferer überprüfen, bei konkreten Hinweisen auf Menschenrechtsverletzungen aber auch weitere Unternehmen der Kette. Sorgen sie nicht für Abhilfe, drohen den deutschen Firmen hohe Bußgelder. Außerdem können Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften künftig Betroffene vor deutschen Gerichten vertreten.
Die deutsch-türkische Juristin Sevil Eskicioglu Üçtaş, die viele Textilunternehmer in der Türkei vertritt, hält das Gesetz für einen ersten Schritt in die richtige Richtung. Viele ihrer Klient*innen würden sich jetzt mit dem Thema befassen, seien sich dem Ausmaß der Änderungen aber noch nicht bewusst: „Sie sagen: In meiner Fabrik ist doch alles in Ordnung. Ihnen muss bewusst werden, dass sie nun auf für die Zustände in den Subunternehmen verantwortlich sind.“
Eskicioglu fragt sich, wie praktikabel das Gesetz in der Praxis ist: „Es fehlt bisher noch an Kontrollmechanismen in der Türkei. Wenn ein türkischer Zulieferer seinem deutschen Geschäftspartner in seinem Bericht versichern wird, dass alles gesetzeskonform abläuft, wird die deutsche Firma vermutlich darauf vertrauen. Was es hingegen gegen müsste, sind Inspektionen vor Ort in der Türkei“, so die Anwältin. Das kommende Jahr sieht sie als eine Probephase für das neue Gesetz. Da wird sich zeigen, wo noch nachgebessert werden kann – und was die Politik wirklich verbessern kann.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.