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Türkei: Was steckt hinter dem Verbotsverfahren gegen die HDP?

In der Türkei wurde am Mittwoch ein Verbotsverfahren gegen die kurdennahe Oppositionspartei HDP eingeleitet. Am Freitag wurden erneut viele Mitglieder verhaftet. Opposition und EU zeigen sich entsetzt.
von Kristina Karasu · 19. März 2021
Ein Bild aus besseren Zeiten: Der türkischen Oppositionspartei HDP (hier im Wahlkampf 2018) droht das Verbot.
Ein Bild aus besseren Zeiten: Der türkischen Oppositionspartei HDP (hier im Wahlkampf 2018) droht das Verbot.

Ömer Faruk Gergerlioğlu hat in seinem Parlamentsbüro ein Bett aufgestellt. Er werde das Gebäude nicht freiwillig verlassen, betont der Abgeordnete der oppositionellen HDP. „Wir sind hier getrennt von unseren Familien aber für die Demokratie ist es das wert“ sagt er. Der gelernte Arzt wird seit Jahren in der Türkei als beherzter Kämpfer für Menschenrechte geschätzt. Am Mittwoch wurde ihm mitten in einer Plenarsitzung sein Parlamentsmandat entzogen. Wegen eines Tweets aus dem Jahr 2016 sei er zu zwei Jahren Haft verurteilt worden, verlas ein Parlamentssprecher.

Es kam zu einem Tumult; nur seine Parteikollegen konnten verhindern, dass Gergerlioğlu direkt aus dem Saal abgeführt wurde. Am selben Tag eröffnete der oberste türkische Staatsanwalt auch noch ein Verbotsverfahren gegen Gergerlioğlus Partei, forderte ein fünfjähriges Politikverbot für 687 führender HDP-Mitglieder und eine Beschlagnahmung des Parteivermögens. Die HDP-Spitze spricht von einem „politischen Staatsstreich“.

Sechs Kurdenparteien wurden bereits verboten

Parteiverbote haben eine unrühmliche Tradition in der Türkei, sechs Kurdenparteien waren in vergangenen Jahrzehnten bereits verboten worden. Doch in den letzten dreizehn Jahren hatte es kein Partei-Verbotsverfahren mehr gegeben, galt dies doch als Relikt aus instabilen, undemokratischen Zeiten. Das letzte Mal im Jahr 2008 wollte die Staatsanwaltschaft Erdogans islamisch-konservativen AKP verbieten, warf der Partei antisäkulare Aktivitäten vor. Doch das Verbotsverfahren scheiterte – und Erdogan ging gestärkt daraus hervor. Seither stellte er sich gegen Parteiverbote und noch im vergangenen Jahr erklärte der Vizechef seiner Partei Numan Kurtulmus: „In der Türkei ist aus Parteiverboten nie irgendetwas Positives hervorgegangen.“

Verdrängt Ankara nun seine eigene Geschichte? Die oberste Staatsanwaltschaft betont, die kurdennahe HDP sei der politische Arm der verbotenen PKK. Tatsächlich gibt es in der zweigrößten Oppositionspartei auch PKK-Sympathisant*innen, doch setzt sie sich seit Jahren für eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes ein. Trotzdem sitzen hunderte ihrer Mitglieder in Haft, wurden 48 ihrer gewählten 65 Bürgermeister in den vergangenen zwei Jahren abgesetzt und durch Zwangsverwalter ersetzt. Der Wählergunst hat das bisher keinen Abbruch getan. Zuletzt bei den Parlamentswahlen 2018 kam die HDP türkeiweit auf 11,7 Prozent der Stimmen.

Erdogan schweigt zum Verbotsverfahren

Erdogan hatte in den vergangene Jahren und besonders Wochen die HDP aufs wüste beschimpft und sie eine Terrormarionette genannt. Zu dem Verbotsverfahren schweigt er jedoch bisher. Sein Bündnispartner Devlet Bahceli, Chef der ultranationalistischen MHP, reagierte schneller, begrüßte das Verbotsverfahren gleich am Donnerstag auf einem Parteitag. Ein Verbot der „kriminellen HDP“ sei eine Ehrenpflicht für die Nation, so Bahceli.

Der MHP-Vorsitzende fordert seit langem ein Verbot der HDP. Der zeitliche Zusammenfall von Verbotsverfahren und MHP-Parteitag scheint kaum ein Zufall zu sein. Bahcelis MHP befindet sich seit 2018 in einem Wahlbündnis mit Erdogans AKP, der Staatspräsident scheint zunehmend abhängig von dem Ultranationalisten. Die jüngsten Ereignisse beweisen erneut, dass sich Bahceli zum Stichwortgeber der türkischen Regierungspolitik entwickelt hat.

Kritik aus dem In- und Ausland

Im In- wie Ausland hagelte es Kritik an dem Verbotsverfahren. Die säkular orientierte CHP, größte Oppositionspartei der Türkei und Schwesterpartei der SPD, äußerte sich zunächst vorsichtig: „Wenn wir die Demokratie verteidigen, müssen wir Prozesse wie die Schließung politischer Parteien aufgeben", sagte Parteichef Kemal Kilicdaroglu am Freitag. Heftigere Worte kamen von Erdogans einstigen Weggefährten. Ali Babacan, Ex-AKP-Wirtschaftsminister und Gründer der DEVA-Partei erklärte: „Der Versuch, eine Partei mit sechs Millionen Stimmen durch die Justiz zu verhindern, ist den Wählern gegenüber respektlos“, so Babacan. Das führe nur in eine politische Sackgasse.

Erdogans Ex-Premier und Gründer der Zukunfts-Partei Ahmet Davutoglu schrieb auf Twitter, er sehe den gesellschaftlichen Frieden in der Türkei gefährdet. Die Regierung spreche zwar von einer neuen Verfassung, werfe die Türkei aber in die Strudel der 1990er Jahre zurück. Damit spielt er darauf an, dass Erdogan erst Anfang des Monats eine neue, demokratischere Verfassung in Aussicht stellte und dazu einen umfangreichen Menschenrechtsaktionsplan verkündete.

Der war vor allem für die Ohren der EU bestimmt, die am 25. und 26. März bei ihrem EU-Gipfel über mögliche Sanktionen gegen die Türkei entscheiden will, falls es keine Fortschritte bei Themen wie dem Gaskonflikt mit Griechenland, Menschenrechten und Demokratie geben sollte. Das HDP-Verbotsverfahren lässt solche Bemühungen wie eine Farce erscheinen.

Erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell und Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi erklärten in einer gemeinsamen Stellungnahme, die EU sei zutiefst besorgt über die Forderung nach einem Verbot der HDP. Auch die US-Regierung kritisierte die Pläne. Von einem herben „Rückschlag für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei“, sprach der der Vorsitzende der Koordinierungsgruppe Türkei, SPD-Präsidiumsmitglied Dietmar Nietan. Er verurteilte die Aufhebung der Immunität Gergerlioğlus und forderte: „Dieses Verfahren und alle Repressionen gegen die HDP müssen umgehend beendet werden.“

Die Bundesregierung zweifelt derweil deutlich an der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei. „Der Fall der HDP wirft erhebliche Zweifel an der Verhältnismäßigkeit auf“, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes. Tatsächlich ist es gerade die Unverhältnismäßigkeit der Methoden, die zweifeln lassen, ob es Erdogans Regierung wirklich um einen Kampf gegen den Terror geht oder vielmehr um das eigene politische Überleben. Erst recht, da am heutigen Freitag erneut zahlreiche Mitglieder der HDP sowie der Vorsitzenden des türkischen Menschenrechtsvereins IHD festgenommen wurden. Die jüngsten Ereignisse dürften die Wut der HDP-Wähler auf die Regierung nur noch vergrößern.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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