Türkei: Warum die Anzahl der Frauenmorde steigt
Anwältin Leyla Süren ist müde. Gestern ist sie aus Istanbul ins nordtürkische Bolu und wieder zurück gereist, um einen Mordfall zu untersuchen, der erschaudern lässt. Die junge Studentin Dilay Gül war am Abend des 14. Oktober nach einem Uni-Seminar auf dem Rückweg zu ihrem Wohnheim, als ein Studienkollege sie mit zahlreichen Messerstichen ermordete – nur wenige Meter von dem Universitätsgebäude entfernt. „Es gab keine Beleuchtung, sie musste durch den Garten der Universität laufen, um den einzig offenen Hinterausgang zu erreichen – warum gibt es immer noch solche Zustände?“ fragt Anwältin Süren voller Wut. Und doch weiß sie, dass dieses Problem nicht mit ein paar Laternen gelöst werden kann.
Klima der Gewalt
Vor einem Jahr sorgte ein ähnlicher Mordfall für immenses Aufsehen in der Türkei. Im Februar 2015 war die 19-jährige Studentin Özgecan Aslan auf dem Nachhauseweg im südanatolischen Mersin von einem Minibusfahrer brutal ermordet worden. Zehntausende gingen daraufhin im ganzen Land gegen Gewalt an Frauen auf die Straße, Prominente und Politiker aller Parteien verurteilten die Tat. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan höchstpersönlich erklärte, dass er den Fall genau verfolgen werde, er forderte die Höchststrafe für den Täter und ein gesellschaftliches Umdenken.
Tatsächlich kassierten der Mörder und seine beiden Helfer im Dezember lebenslängliche Gefängnisstrafen – doch die Gewalt an Frauen reißt nicht ab. Allein 2015 wurden 303 Frauen in der Türkei ermordet – mehr noch als im Jahr zuvor. Gründe für diesen Anstieg dürften das politisch angespannte Klima, der seit Monaten anhaltende, blutige Kurdenkonflikt ebenso wie die kriselnde Wirtschaft sein, meint Süren: „Wir wissen: Ein Klima der Gewalt und ökonomische Probleme lässt auch die Gewalt an Frauen ansteigen.“
Patriarchale Mentalität
Hinter den Taten stecke meist eine patriarchale Mentalität. „Meist werden Frauen ermordet, weil sie ihr Leben selber in die Hand nehmen wollen, einen Beruf ergreifen, die Entscheidungen bezüglich ihres Lebens selber treffen oder sich scheiden lassen wollen. Das akzeptieren manche Männer nicht. Aber manchmal sind die Mordgründe auch unfassbar banal“, erklärt Anwältin Süren. Im Sommer etwa habe ein Mann seine Frau ermordet, weil Jogurt auf dem Tisch fehlte. „Das sagt eine Menge über den Wert von Frauen in diesem Land aus.“
Dabei fehlt es nicht an Gesetzen. Zivil- und Strafrecht wurden unter der islamisch-konservativen AKP-Regierung grundlegend reformiert. Frauen sind Männern rechtlich weitgehend gleichgestellt, Strafminderung etwa bei „Ehrenmorden“ gibt es nicht mehr. Seit den Özgecan-Protesten erteilen Richter vermehrt Höchststrafen. Oft kritisierte Strafminderungen, etwa weil der Täter vor Gericht eine Krawatte trug oder aussagte, in das Oper verliebt gewesen zu sein, haben seither abgenommen – doch ausgerottet seien solche Fehltritte noch immer nicht, beklagt Anwältin und Aktivistin Süren: „Noch immer wird vor Gericht oft die Schuld bei den Frauen gesucht.“
Ultrakonservative Frauenbilder
Problematisch ist auch, dass laut Studien nur 11 Prozent der türkischen Frauen, die Opfer von Gewalt werden, auch Hilfe suchen. Die anderen schrecken davor zurück, weil ihre Familie Druck ausübt, sie ihre Rechte nicht kennen oder sich gar selbst schuldig fühlen. Und nicht wenigen der Frauen, die Hilfe suchen, wird diese verwehrt – obwohl alle Behörden zur Hilfe verpflichtet sind. So bat die 17-jährige Gymnasiastin Cansel K. im anatolischen Kayseri Ende Februar ihre Schulleitung um Hilfe, weil sie von ihrem Mathematiklehrer belästigt worden war. Doch die Schulleitung vertuschte den Vorfall – und Cansel beging aus Verzweiflung Selbstmord.
Statt gegen diese Mentalität anzusteuern, bestärkt die Regierung ultrakonservative Frauenbilder. So erklärte Premierminister Ahmet Davutoğlu kürzlich, Frauen würden mit der Geburt von Kindern einen Dienst am Vaterland leisten, ähnlich dem Militärdienst. Erdoğan nannte die Gleichberechtigung von Frauen und Männer im letzten Jahr „wider der Natur“, Frauen seien dem Mann anvertraut. Eine Demonstration am 7. März 2016 in Istanbul anlässlich des Weltfrauentages wurde von den Behörden erst verboten, dann von der Polizei brutal aufgelöst. Anfang des Jahres sorgte gar die oberste Religionsbehörde Diyanet für einen Skandal, als sie im Internet auf die Frage eines Gläubigen antwortete, dass es aus Sicht mancher muslimischer Strömungen keinen Einfluss auf die Ehe habe, „wenn der Vater seine Tochter mit Wollust küsst“. Es sei ebenfalls keine Sünde, wenn ein Vater seine Tochter „ansieht und dabei Lust empfindet“. Das Mädchen müsse aber „älter als neun Jahre“ sein.
Realitätsferne und frauenfeindliche Aussagen
Nach einem Proteststurm wurde die Seite vom Netz genommen, doch die Fassungslosigkeit blieb. Kurz zuvor hatte die einflussreiche Behörde noch appelliert, verlobte Paare sollten keine Händchen halten, das sei unislamisch. Aussagen so realitätsfern wie frauenfeindlich – die die Stellung der Frau kaum verbessern werden.
Aufzuhalten sei aber der Weg türkischer Frauen zu mehr Selbstbestimmung nicht, meint Süren – weder Angst vor Gewalt noch ewiggestrige Männer halten sie davon ab: „Selbst ich werde oft bedroht, weil ich Opfer von Gewalt vertrete – aber ich werde nicht davon abrücken, koste was es wolle.“
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.