Türkei-Resolution: SPD-Bundesparteitag fordert Freiheit für Erdoğan-Kritiker
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Seine Anhänger nennen ihn liebevoll „Selo“. Selahattin Demirtaş von der linksliberalen, prokurdischen Oppositionspartei HDP ist eine Ausnahmeerscheinung in der türkischen Politik. Während Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aggressiv ins Mikrofon schreit, spricht Demirtaş meist mit sanfter Stimme. Am vergangenen Donnerstag wurde nun ein Gerichtsverfahren gegen ihn eröffnet. Er ist wegen Terrorunterstützung angeklagt, ihm drohen 142 Jahre Haft.
SPD fordert Freilassung politischer Häftlinge
„Die Vorwürfe sind konstruiert und der Prozess ist Gift für die demokratische Entwicklung der Türkei“, erklärte dazu der SPD-Bundestagsabgeordnete Frank Schwabe. Vergangene Woche hat er einen Antrag beim SPD-Bundesparteitag eingebracht, der Demirtaş‘ Freilassung fordert. In dem Beschluss heißt es: „Wir sind überzeugt, dass Selahattin Demirtaş aus rein politischen Gründen inhaftiert wurde, um ihn als Oppositionspolitiker mundtot zu machen.“ Der HDP-Mann und alle anderen politischen Häftlinge müssten sofort freigelassen werden, so die Forderung des SPD-Parteitags an die Erdoğan-Regierung in Ankara.
Auch der SPD-Politiker und Bundestagsvizepräsident Thomas Oppermann setzt sich für die Freilassung türkischer Oppositioneller ein. Zusammen mit den Fraktionschefs von Linken und Grünen, Sarah Wagenknecht und Anton Hofreiter, hat Oppermann als SPD-Fraktionsvorsitzender 2016 eine Patenschaft für Demirtaş übernommen. „Mit Selahattin Demirtaş steht heute in der Türkei ein gewählter Parlamentarier vor Gericht, der vom türkischen Staat systematisch an seiner Arbeit als Abgeordneter gehindert wird“, erklärten die drei am vergangenen Donnerstag. „Ein offensichtlich politisch motivierter Prozess ist allerdings kein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung.“
Demirtaş: der „kurdische Obama“
Als Mitglied der ethnischen Minderheit der Zaza und Fürsprecher der Kurden galt der 44-jährige Demirtaş bei vielen bis vor kurzem als Hoffnungsträger, als aussichtsreicher Gegenspieler zu Erdoğan. Den „kurdischen Obama“ nannte ihn die britische Zeitung „The Guardian“ im Jahr 2015.
Die Staatsmacht sieht Demirtaş deshalb als Gefahr an: Er hat etwas hinbekommen, was vor ihm noch niemandem gelungen war – seine Politik schaffte es, die ethnisch-religiöse Spaltung der türkischen Gesellschaft ein Stück weit zu überbrücken. Zu seinen Wählern zählen Kurden aus den Dörfern Ostanatoliens genauso wie liberale Türken aus den Großstädten am Mittelmeer. Im Juni 2015 überwand seine HDP, eine Schwesterpartei der SPD, damit die Zehn-Prozenthürde und zog ins türkische Parlament ein. In der Folge verloren Erdoğan und seine AKP die absolute Mehrheit. Demirtaş und seine Mitstreiter triumphierten.
Erdoğan-Regierung begräbt die Demokratie
Doch dann ging die türkische Regierung mit größter Härte gegen die Opposition vor, nicht erst seit dem gescheiterten Putschversuch im Juni 2016. Schon im Mai 2016 hob das Parlament die Immunität einiger Abgeordneten auf, wenige Monate später wurde Selahattin Demirtaş verhaftet. Nun sitzt er schon mehr als 400 Tage in Haft.
Die Regierung begrub damit die Hoffnung vieler junger, progressiver Menschen in der Türkei auf eine Öffnung des Landes. Die HDP setzt sich für die Rechte von Frauen und Homosexuellen ein, steht für Umweltschutz und Frieden – in der Türkei noch oft genug Tabuthemen. Wenn es nach dem Willen des türkischen Staats geht, muss der Parteichef für diese Politik nun bis zu seinem Lebensende im Gefängnis sitzen.
Ob die Regierung damit Selahattin Demirtaş endgültig besiegt hat, bleibt jedoch fraglich. In seiner Zelle im westtürkischen Edirne hat er damit angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben: Laut Medienberichten ist das Buch schon jetzt ein Bestseller – und „Selo“ aktuell einer der meistgelesenen Autoren der Türkei.
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.