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Türkei: Prozess gegen Meşale Tolu weckt wenig Hoffnung auf faires Verfahren

Am Mittwoch begann in Istanbul der Prozess gegen die Deutsche Meşale Tolu. Der türkischstämmigen Journalistin und Übersetzerin wird Terrorpropaganda vorgeworfen. Ihr Prozess könnte Signalwirkung für die Verfahren der weiteren zehn Deutschen haben, die derzeit in der Türkei aus politischen Gründen in Haft sitzen.
von Kristina Karasu · 12. Oktober 2017
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Seit über fünf Monaten sitzt sie im Istanbuler Frauengefängnis Bakırköy zusammen mit ihrem 3-jährigen Sohn in Untersuchungshaft. Die Vorwürfe gegen die 33-jährige Deutsche klingen schwerwiegend: Terrorpropaganda und Mitgliedschaft in der verbotenen, linksextremen MLKP. Die Staatsanwaltschaft fordert bis zu 20 Jahre Haft für sie und 17 weitere Mitangeklagte. Doch Meşale Tolu plädiert auf Freilassung und Freispruch: „Ich habe keine der genannten Straftaten begangen und habe keine Verbindung zu illegalen Organisationen“, erklärte sie am erstem Verhandlungstag. Trotzdem ordnete der Richter an, dass sie weiter in Untersuchungshaft bleiben muss.

Beweislage ist äußerst dünn

Dabei ist die Beweislage bisher äußerst dünn: Vorgeworfen wird ihr die Teilnahme an Beerdigungen und Gedenkveranstaltungen für Kommunistinnen, die von der Polizei oder im Kampf gegen den IS getötet wurden. Dabei soll sie die Fahne der MLKP geschwenkt haben; Tolu bestreitet das. Sie habe lediglich als Journalistin über die Veranstaltungen berichtet.

Meşale Tolu wuchs in Ulm auf und besitzt nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Seit 2014 lebt sie in Istanbul und arbeitet als Übersetzerin und Journalistin für die sehr linke Nachrichtenagentur ETHA, die - anders als viele andere regierungskritische Medien – nicht verboten ist. Allerdings ist ihre Webseite gesperrt. Angebliches „Propagandamaterial“, das man in Tolus Wohnung gefunden haben soll, sei eine legale Zeitschrift, die es im Handel zu kaufen gibt, verteidigt sich die Journalistin.

Besonders die Umstände ihrer Festnahme hatten für Aufsehen gesorgt: am 30. April stürmten bewaffnete Anti-Terror-Einheiten der Polizei ihre Wohnung in Istanbul. Sie bedrohten Tolu und übergaben ihren eingeschüchterten zweieinhalbjährigen Sohn fremden Nachbarn. Sie verwehrten Tolu Verwandte anzurufen, damit sie sich um das Kind kümmern. Tolus Mann Suat Çorlu wurde bereits zwei Wochen zuvor festgenommen; auch ihm wird Mitgliedschaft in der MLKP vorgeworfen. Tolus Vater, der seit 43 Jahren in Ulm lebt, reiste sofort nach Istanbul, um sich um den Enkel zu kümmern. Doch der schrie so sehr nach seiner Mutter, dass der Großvater ihn notgedrungen zu seiner Tochter Meşale Tolu ins Gefängnis brachte. Die klagt vor Gericht: „Mein Sohn, der eigentlich in den Kindergarten gehen müsste, lebt seit fünf Monaten mit mir im Gefängnis. Aus diesem Grund ist die Untersuchungshaft nicht nur für mich, sondern auch für meine Familie und für meinen Sohn zur Bestrafung geworden.“

Bundesregierung beobachtet Fall genau

Vertreter aller großen deutschen Medien sind zu dem Prozess gekommen, dazu die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Partei „Die Linke“, Heike Hänsel. Die Bundesregierung beobachtet den Fall genau, auch weil Tolu eine von elf Deutschen ist, die laut Auswärtigem Amt derzeit in der Türkei aus politischen Gründen in Haft sitzen. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ nennt sie eine „politische Geisel“, ihre Familie ist derselben Überzeugung. So erklärte ihr Bruder Hüseyin Tolu im Interview mit dem Focus, bei ihrer Festnahme hieß es zunächst, sie werde in wenigen Tagen freigelassen: „Aber als die türkischen Behörden merkten, dass sie eine Deutsche ist, hat sich die Lage schlagartig geändert. Die meisten ihrer Kolleginnen von der Agentur EHTA wurden nach wenigen Tagen, maximal einigen Monaten, entlassen. Nur Meşale, die einzige Deutsche, sitzt noch in Haft. Das zeigt doch das Prinzip dahinter.“

Auch Beobachtern des Prozesses fällt es schwer, anhand der bisherigen Beweise in Tolu eine Terroristin zu sehen. Sie mag vielleicht eine linke Aktivistin sein; eine schwerwiegende Straftat scheint sie nach deutschem Rechtsverständnis nicht begangen zu haben. Doch die türkische Justiz erlebt in diesen Tagen einen historischen Tiefpunkt; seit Ausrufung des Ausnahmezustandes im letzen Jahr scheinen Beweise kaum noch nötig, um Regierungskritiker monatelang in Untersuchungshaft zu halten. Gegen den deutschen Welt-Korrespondent Deniz Yücel etwa, der seit Februar in Istanbul in Haft sitzt, wurde bisher nicht einmal eine Anklage erhoben. Und für den deutschen Amnesty International-Mitarbeiter Peter Steudtner und weiteren Menschenrechtlern, die im Juli auf der Insel Büyükada vor Istanbul festgenommen wurden, forderte die Staatsanwaltschaft am letzten Wochenende 15 Jahre Haft wegen Mitgliedschaft und Unterstützung einer Terrororganisation. Auch hier ist die Beweislage nach bisherigem Kenntnisstand äußerst dünn.

Druckmittel gegen Deutschland?

Vielmehr scheint es, als ob Steudtner und Yücel von Ankara als Druckmittel gegen Deutschland genutzt werden. So hieß es im Juli aus Berliner Regierungskreisen, der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan habe im Juli dem damaligen deutschen Außenminister Sigmar Gabriel angeboten, Deniz Yücel freizulassen, wenn Deutschland im Gegenzug türkische Ex-Generäle ausliefere, die nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 Asyl in Deutschland beantragt hatten.

Erdoğan verurteilte Yücel und Steudtner in seinen Reden als Terrorhelfer und Putschisten vor. Meşale Tolus Fall ist in der türkischen Öffentlichkeit allerdings kaum ein Thema. Ganz klar aber ist Tolu ein Beispiel dafür, wie regierungskritische Medien in der Türkei zum Schweigen gebracht werden: Über 150 türkischen Medienvertreter sitzen derzeit in Haft, im letzten Jahr wurden über 150 Medien geschlossen. Signale, die Hoffnung auf faire Verfahren und eine Entspannung der deutsch-türkischen Beziehungen wecken, bot Meşale Tolus Prozess bisher nicht.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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