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International

Türkei: Massive Corona-Welle bringt Erdogan in Bedrängnis

Die Türkei wird von einer massiven Corona-Welle überrollt, die Öffnungen Anfang März kommen dem Land teuer zu stehen. Die Erdogan-Regierung hat viel Vertrauen verspielt – und versucht nun im Fastenmonat Ramadan zurückzurudern.
von Kristina Karasu · 22. April 2021

Ayten Ulus sitzt auf einer Bank im Istanbuler Stadtteil Eminönü und blickt müde auf den Bosporus. Als gläubige Muslimin fastet sie von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Doch dieses Jahr fällt ihr das besonders schwer: zahlreiche ihrer Verwandten erkrankten in den letzten Wochen an Covid, darunter die Schwiegertochter und die Enkel. Ein 27-jähriger Neffe liegt noch immer im Krankenhaus.

Über 60.000 neue Coronafälle pro Tag zählte die Türkei in den letzten Tagen, in der Metropole Istanbul liegt der 7-Tage-Inzidenzwert bei über 920. „Corona ist überall“, sagt die 53-jährige Frührentnerin, „denn die Leute halten sich zu wenig an die Regeln“. Die Regierung bemühe sich etwas zu tun, aber „ihre Corona-Politik könnte natürlich besser sein“ sagt sie vorsichtig. Vor allem dass Staatspräsident Erdogan und seine Partei AKP in den letzten Wochen gigantische Parteitage mit zehntausenden von Teilnehmern im ganzen Land veranstaltete, obwohl das derzeit eigentlich verboten ist, hält sie für gefährlich und inakzeptabel.

Fallzahlen steigen rasant

Wer durch Istanbul läuft, der hört viele Menschen ernüchtert, wenn nicht gar wütend über ihre Regierung reden. Während Erdogan monatelang an öffentlichen Veranstaltungen nur über Video-Schalten teilnahm, in seinem Palast penibel Corona-Regeln einhielt und sein Volk stets eindringlich vor den Gefahren des Virus warnte, scheinen für ihn seit einigen Wochen neue Regeln zu gelten. So nimmt er an riesigen Beerdigungen von einstigen Weggefährten teil, wo von Mindestabstand kaum die Rede sein kann. Gleichzeitig dürfen normale Bürger ihre Angehörigen nur im engsten Familienkreis beisetzen.

Letzte Woche noch preiste er seine Corona-Politik als eine der besten der Welt, obwohl die Fallzahlen in seinem Land so rasant steigen wie kaum anderswo auf dem Globus. Anfang März ließ er Cafés und Restaurants wiedereröffnen – seither haben sich die täglichen Fallzahlen versechsfacht.

Oppostion für harten Lockdown

Nun rudert Erdogan zurück, hat für den muslimischen Fastenmonat Ramadan „teilweise Schließungen“ verordnet. Restaurants dürfen nur Paketservice anbieten, es herrschen Ausgangssperren von 19 Uhr abends bis 5 Uhr am Morgen und ganztätig am Wochenende, kollektives Fastenbrechen ist verboten. Selbstverständlich nicht für Erdogan – gleich am ersten Abend lud der Staatspräsident Hinterbliebene von Märtyrern zum Fastenbrechen in seinen Palast, wenn auch unter strengen Hygienebedingungen.

Dabei fordern Opposition und Ärzte seit langem einen harten Lockdown. In der Istanbuler Altstadt Sultanahment wollten Vertreter der Istanbuler Ärztekammer letzten Donnerstag vor dem Gesundheitsamt eine Presseerklärung abgeben, doch duzende Polizisten in Spezialmontur hielten sie mit Gewalt davon ab – was bei den Passanten erst recht für Aufmerksamkeit sorgte.

Kein Platz mehr auf Intensivstationen

Schließlich durften sie ihre Erklärung auf einem benachbarten Platz doch noch abgeben, allerdings umkreist von duzenden Polizisten. „Wir müssen dieses Massaker stoppen!“ verkündet Dr. Güray Kilic, Vorstandsmitglied der Istanbuler Ärztekammer. Er sieht die Regierung in der Verantwortung, wirft ihr in der Pandemie Schönfärberei und Intransparenz vor. Die tatsächlichen Todeszahlen seien dreimal höher als offiziellen und die Aussage des Gesundheitsminsteriums, die Intensivstationen seien landesweit zu 60 bis 70 Prozent ausgelastet, hält Kılıç eine glatte Lüge: „Unsere Krankenhäuser sind mit Covid-19-Patienten gefüllt, selbst neu eröffnete Stationen reichen nicht aus, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Auf den Intensivstationen gibt es keine Plätze mehr. Wir sind ausgelaugt und verzweifelt, jeden Tag neue Todesfälle erleben zu müssen.“ Seine Kollegen nicken.

Auch Canan Kaftancioglu, Istanbul-Vorsitzende der republikanischen Volkspartei CHP, die seit zwei Jahren die Metropole regiert, demonstriert mit den Medizinern. Sie ist selbst gelernte Ärztin und auch sie drängt auf einen harten Lockdown, hält die jüngsten Corona-Maßnahmen für vollkommen unzureichend.

Zuspruch für Erdogan sinkt

Doch das letzte Wort hat auch hier Erdogan. Mit Rücksicht auf die Wirtschaft scheint er vor allzu harten Maßnahmen zurückzuschrecken. Denn schon vor Corona steckte die Türkei in einer schweren Wirtschaftskrise, die sich in der Pandemie noch einmal verstärkte. Das Volk leidet unter immenser Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut.

Doch je länger die Pandemie anhält, umso hoffnungsloser werden viele Türk*innen. So etwa die 25-jährige Kosmetikerin Leyla Demir. Vor wenigen Tagen mussten die Schönheitssalons erneut schließen und Demir kann auf keinerlei staatliche Hilfen zählen. Trotzdem plädiert sie für einen harten Lockdown: „Zwei bis vier Wochen sollte alles schließen und der Staat so lange für uns sorgen, damit diese Pandemie so schnell wie möglich eingedämmt wird“ findet sie. Viele Türk*innen fühlen sich von ihrer Regierung im Stich gelassen, Erdogans Partei kommt laut aktueller Umfragen nur noch auf 31 Prozent der Stimmen. 2018 kam die AKP noch auf 42 Prozent.

Impfkampagne gestartet

Der stellvertretende Leiter der Istanbuler Fatih-Sultan-Mehmet-Universitätsklinik Dr. Ertunc Mega hingegen sieht auch das Volk in der Verantwortung, sich umsichtig zu verhalten. „Man kann nicht alles vom Staat erwarten. Ankara versucht eine Balance zwischen Freiheiten und Restriktionen zu halten, und das recht erfolgreich“, meint der Chefarzt.

Mega verweist dazu auf die schnell gestartete türkische Impfkampagne. Allein in seinem Krankenhaus gebe es 16 Impfstationen, werde im 10-Minuten-Takt geimpft. Die Terminvergabe funktioniert über eine Handy-App schnell und reibungslos. Mittlerweile sind über 14 Prozent der Bevölkerung zumindest einmal geimpft. Betagte Covid-Patient*innen müssten in seiner Klinik kaum noch behandelt werden, die Sterblichkeitsrate sei zurückgegangen, freut sich Mega.

Die Türkei setzt vor allem auf den chinesischen Impfstoff SinoVac, 26 Millionen davon wurden bisher geliefert, dazu kommen 4,5 Millionen Dosen BioNTech. Gesundheitsminister Fahrettin Koca verspricht im Juni neuen Nachschub. Große Hoffnung setzt die Türkei außerdem auf ihre 17 heimischen Impfstoffentwicklungen. Einer der Stoffe hat gerade die zweite Phase der klinischen Studien erfolgreich abgeschlossen, Gesundheitsminister Koca stellt eine Zulassung im September in Aussicht. Sollte das gelingen, hätte Erdogan endlich wieder eine Erfolgsgeschichte zu erzählen.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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