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Türkei: Hunderte Festnahmen nach Protesten von Student*innen

Tausende Student*innen in der Türkei protestieren gegen den von Erdogan eingesetzten Rektor der türkischen Elite-Uni Bogazici. In den vergangenen Tagen wurden mehr als 600 von ihnen festgenommen. Die Proteste schlagen hohe Wellen – geht es doch um die Zukunft der Hochschulen und der jungen Türk*innen.
von Kristina Karasu · 3. Februar 2021
Proteste in Istanbul: Studierende der Universität Bogazici protestieren am 2. Februar gegen den von Erdogan eingesetzten Uni-Direktor.
Proteste in Istanbul: Studierende der Universität Bogazici protestieren am 2. Februar gegen den von Erdogan eingesetzten Uni-Direktor.

Der 1. Februar war ein schwarzer Tag für die Student*innen der Istanbuler Bogazici-Universität: Wie schon seit Wochen wollten sie friedlich gegen ihren neuen Rektor protestieren. Doch die Polizei reagierte mit großer Härte, stürmte am Abend mit einem riesigen Aufgebot sogar den Campus. „Es war erschreckend“ erzählt einer der Studenten. „Die Polizei hatte es vor allem auf die Federführenden der Proteste abgesehen“, glaubt er. 159 Student*innen wurden insgesamt festgenommen, nur ein Teil von ihnen ist zur Stunde wieder frei. „So etwas haben wir nicht einmal in Zeiten des Militärputsches erlebt!“ schreiben Dozenten der Bogazici auf Twitter.

Der Innenminister beschimpft die Demonstrant*innen

Oppositionspolitiker aller Parteien erklärten sich solidarisch mit den Protestierenden. Am Dienstagmittag versammelten sich zahlreiche Lehrkräfte der Universität auf dem Campus, drehten dem Rektorat den Rücken zu. In ihren Händen Schilder mit der Aufschrift: „159“ Am Dienstag gab es erneut Proteste in Instanbul und Ankara. 228 Demonstrant*innen wurden festgenommen. Der Innenminister Süyleman Soylu beschimpft die Demonstranten wahlweise als „LGBT-Perverse“ oder “Terroristen”. Klar ist: Es geht hier um mehr als nur um einen neuen Rektor – es geht um die Zukunft der türkischen Hochschulen, der türkischen Jugend.

Am 1. Januar ernannte Erdogan den Wirtschaftsprofessor Meli Bulu zum neuen Rektor der Bogazici. Er hatte mehrmals für Erdogans AKP kandidieren wollen, aber erfolglos. Er hat noch nie an der Uni als Professor unterrichtet, zudem gibt es massive Plagiatsvorwürfe gegen ihn. Während die Hochschule jahrelang ihre Rektoren aus ihren eigenen Professoren selbst bestimmte, wurden die internen Meinungen diesmal vollkommen missachtet. Mit Absicht, glaubt Student Murat: „Melih Bulu kennt die Visionen unserer Universität nicht. Die Bogazici ist eine Hochschule, in der jeder jedem Respekt zollt, so was findet man selten in der Türkei. Sie wird als das Herz der feministischen- und LGBT-Bewegung der Türkei betrachtet. Wir haben Angst, dass man das zerstören wird. Deswegen wollen wir, dass Melih Bulu sofort zurücktritt.“

Studierende fordern Absetzung der „Zwangsverwalter-Rektoren“

Nur die allerbesten Schulabsolvent*innen des Landes können auf dem weitläufigen Gelände der Universität mit Bosphorusblick studieren, viele bedeutende Geschäftsleute, Wissenschaftler und Künster hat die Hochschule hervorgebracht. Ihre liberale Atmosphäre scheint Erdogan schon länger ein Dorn im Auge zu sein. Die jüngsten Angriffe auf die Bogazici hat Studenten aus dem ganzen Land auf die Straße getrieben. Sie fordern die Absetzung aller „Zwangsverwalter-Rektoren“.

Denn Erdogan versucht schon seit Jahren, die türkische Hochschullandschaft nach seinen Wünschen zu formen. Seit 2016 hat Erdogan die Macht, Uni-Rektoren selbst einzusetzen. Knapp 20 Rektoren mit AKP-Vergangenheit hat er seither eingesetzt, darunter ehemalige Abgeordnete und Ortsvorsitzende seiner Partei. Zudem mehrt sich die Anzahl religöser Rektoren: laut einer Studie der Mittelmeer-Universität Antalya werden mittlerweile zehn Prozent der staatlichen Hochschulen von islamischen Theologen geführt. Vor zehn Jahren war es noch keine einzige. Akademische Qualität scheint bei der Ernennung zweitrangig: Von 196 türkischen Unirektoren haben 68 keinerlei internationale Veröffentlichungen vorzuweisen – allgemein der Gradmesser für akademischen Erfolg.

Tausende Wissenschaftler wurden entlassen

Für kritische Lehrkräfte hat sich der Druck besonders seit dem Putschversuch 2016 enorm erhöht. Tausende Wissenschaftler mit tatsächlichen oder angeblichen Verbindungen zur Gülen-Sekte wurden in den letzten Jahren entlassen. Außerdem wurden über 6000 Wissenschaftler, die Anfang 2016 eine Friedenspetition unterschrieben hatten, per Dekret entlassen, hunderte von ihnen festgenommen und angeklagt. Die Prozesse zogen sich über Jahre hin.

Selbstzensur ist an den Hochschulen seither gang und gebe, berichtet Studentin Ekinsu von der Universität Istanbul: „Die Seminare sind oft vollkommen sinnentleert, kein Dozent traut sich mehr, kritische Themen zu diskutieren“. Der Rektor ließ in den letzten Jahren die meisten Aktivitäten der Studentenclubs verbieten und das studentische Kulturzentrum der Uni abreißen. „Wir haben keinen Ort mehr, wo wir uns versammeln können“, klagt Ekinsu. Nur regierungsnahe, religiöse und nationalistische Studentenverbände können weiterhin jede Art von Veranstaltungen durchführen, berichten Studenten aus der ganzen Türkei.

Erdogans Vision: eine „religiöse Jugend“ heranzuziehen

Zugleich ließ Erdogan in den letzten 15 Jahren über 70 neue Universitäten im ganzen Land errichten. Ihre wissenschaftliche Qualität lässt aber oft zu wünschen übrig, berichtet die türkische Journalistin Tekerek, die seit Jahren dazu recherchiert: „An einer Universitäten gibt es zwar einen Fachbereich für Psychologie, aber keinen einzigen Psychologie-Dozenten. An einer anderen wurde auf dem Campus sofort eine Moschee, aber erst Jahre später eine Bibliothek errichtet“, so Tekerek. Manche Lehrkräfte dozieren selbst in Seminaren, die gar nichts mit Religion zu tun haben, über den Islam - passend zu Erdogans Vision, eine „religiöse Jugend“ heranzuziehen.

Viele Türk*innen sind sich bewusst, dass man mit dieser Art von Bildung kaum Karriere machen kann. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt in der Türkei bei fast 25 Prozent, besonders unter Universitätsabsolvent*innen ist sie in den letzten Jahren rasant gestiegen. Die Inflation erreicht neue Rekordwerte, die Einstiegsgehälter reichen nicht zum Leben. Erdogan hat der Generation Z außer politischem Druck kaum noch etwas zu bieten.

Hochkarätige Wissenschaftler verlassen die Türkei

76 Prozent der jungen Türk*innen träumen von einer Zukunft im Ausland, ergab eine Studie des Meinungsforschungsinstituts MAK. Die am besten ausgebildeten Absolventen und viele hochkarätige Wissenschaftler hat es in den letzten Jahren bereits ins Ausland gezogen. Für die Türkei langfristig ein riesiger Verlust.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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