Türkei grenzt Flüchtlingskinder aus, Familien setzen auf Europa
Thomas Imo / photothek
Der siebenjährige Haneef ist stolz, wenn er seinen Freunden auf dem Spielplatz im Istanbuler Arbeiterviertel Karadeniz ein paar türkische Sätze zurufen kann. In kurzer Zeit hat der syrische Junge die Worte spielend gelernt. Doch er begreift noch nicht, dass ihn etwas von den einheimischen Kindern unterscheidet. Er besucht keine Schule – und wird es auch in Zukunft wohl nicht tun.
Vor zwei Jahren floh er mit seiner Familie aus Aleppo in ihr kurdisches Heimatdorf in Nordsyrien, und von dort weiter nach Istanbul. Hier teilen sie sich mit zwei anderen Familien eine ärmliche Wohnung, der Vater verdient als Möbelpacker kaum genug zum Überleben.
Kein Platz für syrische Kinder
Mutter Mariam (26) wollte Haneef vor ein paar Wochen einschulen, doch weil sie kein Türkisch spricht, schickte sie eine Nachbarin zur Grundschule. „Da sagte man ihr, dass es keinen Platz für syrische Kinder gebe“, erzählt Mariam. Dass die Schule eigentlich verpflichtet ist, ihren Sohn aufzunehmen, weiß sie nicht.
Die Zukunft ihrer beiden Söhne sieht sie düster. „Jetzt werden wir warten, bis sie alt genug sind, ihrem Vater bei der Arbeit zu helfen“, sagt sie, und ihr steigen Tränen in die Augen. „Es ist ein furchtbares Gefühl. Denn wollen nicht alle Eltern das Beste für ihre Kinder?“
Human Rights Watch prangert Missstand an
Vielen syrischen Kinder in der Türkei ergeht es wie Haneef. Von den etwa 708 000 syrischen Flüchtlingskindern im schulpflichtigen Alter besuchen schätzungsweise 415 000 keine Schule – knapp zwei Drittel von ihnen. Diese Zahlen veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) Anfang November in einer alarmierenden Studie.
In den türkischen Flüchtlingscamps werden zwar fast 90 Prozent der Kinder beschult, doch die meisten Flüchtlinge leben mittlerweile außerhalb der Camps, in der Grenzregion oder den Metropolen des Landes. Von ihnen gehen nur 25 Prozent zur Schule, viele haben schon seit Jahren kein Klassenzimmer mehr von innen gesehen. Zwar dürfen syrische Flüchtlingskinder seit vergangenem Jahr staatliche Schulen besuchen, doch nur die wenigsten tun das auch.
Viele scheitern an der Sprache, bisher fehlt es an Türkisch-Kursen für die Flüchtlinge. Nicht wenige werden wie Haneef unrechtmäßig von den Schulen abgewiesen. Andere Eltern nehmen laut der Studie ihre Kinder wieder aus der Schule, weil sie ausgegrenzt werden.
Flüchtlinge zu Kinderarbeit gezwungen
Das größte Problem aber ist Kinderarbeit. Um das Familieneinkommen aufzustocken, müssen viele Flüchtlingskinder arbeiten gehen. Die Behörden drücken in der Regel ein Auge zu, wohl wissend, dass die Flüchtlinge ansonsten nicht überleben könnten. Haneefs Großtante Mazeat Sheikh Naasan etwa schickt vier ihrer sechs Kinder arbeiten. Der jüngste von ihnen ist 15 Jahre alt, in Syrien musste er wegen des Krieges die 7. Klasse abbrechen. Jetzt schuftet er mit seinen Geschwistern wie viele andere Syrer in Istanbuler Textilwerkstätten. „Die Chefs sind furchtbar. Manchmal kommen meine Kinder abends mit kaputten Händen nach Hause, so hart ist die Arbeit“, klagt Naasan. „Sie verdienen nur halb so viel wie ihre türkischen Kollegen und manchmal zahlt man ihnen nicht einmal das.“
Schwarzarbeit statt Arbeitserlaubnis
Die Türkei hat zwar seit Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs vor viereinhalb Jahren ihre Grenzen großzügig geöffnet, kein Land auf der Welt beherbergt so viele Flüchtlinge wie sie. Doch die hier lebenden zwei Millionen Syrer stehen nur unter vorübergehendem staatlichem Schutz, eine Arbeitsgenehmigung erhalten sie nicht. So werden die meisten schwarz beschäftigt – ohne Vertrag, ohne Versicherung und meistens weit unter dem Mindestlohn.
„Die dringendste Maßnahme, damit mehr Flüchtlingskinder in die Schule gehen, wäre die Einführung einer Arbeitsgenehmigung für die Syrer“, meint daher Stephanie Gee, die Leiterin der HRW-Studie. „Doch das ist in der Türkei ein politisch hochsensibles Thema.“ Angesichts hoher Arbeitslosigkeit, Inflation und kriselnder Wirtschaft lehnen die meisten Türken eine Arbeitserlaubnis für Syrer ab. Die AKP-Regierung hatte Anfang des Jahres den Plan, Syrern zumindest eine eingeschränkte Arbeitsgenehmigung zu erteilen, doch das Gesetz wurde – auch wegen Widerstands der Opposition – nie verabschiedet.
Einzige echte Perspektive: Flucht nach Europa
Für die Flüchtlingskinder schwinden damit Zukunftschancen, Unicef warnt bereits vor einer verlorenen Generation. Nicht wenige Jugendliche schließen sich dem bewaffneten Kampf in Syrien an oder radikalisieren sich, warnt die HRW-Studie. Verwandte von Naasan planen, ihre Töchter früh zu verheiraten, damit sie versorgt sind. Sie selbst sucht andere Auswege: „Meine Kinder sind so verzweifelt hier, sie flehen mich jeden Tag an, dass wir in ein Boot steigen und nach Europa fliehen.“
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.