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Türkei: CHP-Bürgermeister setzen auf soziale Hilfen in der Corona-Krise

Für das Wochenende hat die türkische Regierung eine Ausgangssperre in 31 Provinzen und Großstädten verhängt, darunter Istanbul und Ankara. Deren CHP-Bürgermeister zeigen sich in der Corona-Krise sehr aktiv und setzen vor allem auf soziale Hilfen – sehr zum Missfallen von Präsident Erdogan.
von Kristina Karasu · 10. April 2020
Passant*innen mit Mundschutz in Istanbul: CHP-Bürgermeister Imamoglu geht im Kampf gegen das Corona-Virus eigene Wege.
Passant*innen mit Mundschutz in Istanbul: CHP-Bürgermeister Imamoglu geht im Kampf gegen das Corona-Virus eigene Wege.

„Es macht keinen Sinn, ein Staat im Staate zu sein“, warnte der türkische Präsident Erdogan vergangene Woche die Bürgermeister von Istanbul und Ankara. Die beiden Politiker der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD, hatten am 30. März eine Spendenkampagne für Notleidende in der Corona-Krise ins Leben gerufen. Erdogans Regierung ließ die Kampagne prompt verbieten und Spendenkonten sperren. Die Begründung: Ohne Genehmigung des Gouverneurs sei die Aktion illegal. Noch am selben Abend startete Erdogan seine eigene Spendenkampagne unter dem Slogan „Wir sind uns genug“ und spendete selbst sieben seiner Monatsgehälter.

Erdogan fürchtet die Profilierung von CHP-Politikern

Die Botschaft ist deutlich: Als Wohltäter auftreten darf nur das Erdogan-Regime. Volksnähe bestimmte lange das Image der AKP, Erdogan selbst stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Dass nun die jahrelang als elitär verschriene CHP eine soziale Politik betreiben will, scheint Erdogan ein Dorn im Auge. Dazu kommt, dass Ekrem Imamoglu in Istanbul und Masur Yavas in Ankara seit ihrer Wahl im Frühjahr 2019 große Popularität genießen und schon als aussichtsreiche Präsidentschaftskandidaten gehandelt werden. Daher will Erdogan mit allen Mitteln verhindern, dass sie sich in der Corona-Krise profilieren.

„Die AKP-Regierung verzichtet selbst im Kampf um diese nationale Epidemie nicht auf ihre Politik der Polarisierung“, kommentiert Journalist Fikret Bila in der Internetzeitung T24. Doch er bezweifelt, dass dieser Kurs der AKP in dieser nie dagewesenen Krise Erfolg bringt. Denn die Menschen brauchen jetzt konkrete Hilfen und kein politisches Kalkül.

Kommunale Regierungen handeln schnell und gezielt

„Wir haben keine Zeit zu verlieren!“ betonen auch die CHP-Bürgermeister in einer gemeinsamen Erklärung. Sie zeigen sich im Kampf gegen Corona unbeirrt, verteilen Lebensmittel-Pakete an Bedürftige, organisieren Einkäufe für Senioren, erlassen den Mietern von städtischen Gewerberäumen die Mieten und bereiten in Sporthallen Notfallkrankenhäuser vor. Am Donnerstag verkündete der Istanbuler Bürgermeister Imamoglu, er werde Bauern der Umgebung mit Setzlingen und Dünger versorgen.

Yavas hat in Ankara finanzielle Unterstützungen für Haushaltshilfen oder private Fahrer geschaffen, die die Corona-Krise besonders hart trifft. Um das Spenden-Verbot unbürokratisch zu umgehen, rief er wohlhabende Bürger dazu auf, an bestimmten Punkten der Stadt Tüten mit Lebensmitteln für Bedürftige zu hinterlassen oder beim Krämer und die Ecke die angeschriebenen Schulden armer Kunden zu tilgen – mit Erfolg. Das sind kleine, aber wichtige Schritte. Sie zeigen, dass kommunale Regierungen in der Corona-Krise schnell und gezielt auf die Sorgen und Nöte der Bürger reagieren können. Erfolgreiche Beispiele dafür gibt es weltweit.

Ausgangssperre für 31 türkische Großstädte

Die Zahl der Corona-Fälle der Türkei liegt mit 47.029 offiziell noch nicht so hoch wie etwa in Deutschland, doch die Kurve steigt steil an. Weil 60 Prozent der Fälle in der extrem eng besiedelten Metropole Istanbul zu finden sind, plädiert Istanbuls Bürgermeister Imamgolu schon seit Wochen für eine umfassende Ausgangssperre. Präsident Erdogan hatte das aus wirtschaftlichen Gründen bisher abgelehnt, steuert nun aber um: Seit Samstag um Mitternacht dürfen die Einwohner*innen von 31 Großstädten nicht mehr auf die Straße – vorerst für 48 Stunden.

Da es sich um ein Wochenende handelt, dürfte der Einfluss auf die Wirtschaft überschaubar bleiben. Die Türkei steckt in einer schweren Wirtschaftskrise, die Arbeitslosigkeit lag schon im Winter bei 13,8 Prozent, die Auslandsverschuldung bei 62 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. In den letzten Tagen verlor die türkische Lira gegenüber Euro und Dollar wieder stark an Wert, das dürfte die Inflation weiter in die Höhe treiben.

Die türkische Staatskasse ist leer

Bürgermeister Imamoglu macht dafür Erdogans AKP verantwortlich, wirft seinen Vorgängern Misswirtschaft und Verschwendung vor. Die AKP hinterließ ihm in Istanbul nach mehr als zwei Jahrzehnten an der Macht einen Schuldenberg von fast drei Milliarden Euro. Und seit er im Amt sei, verwehren staatliche Banken der Stadt Kredite, klagt Imamoglu. So fiel es der Stadtverwaltung schon vor Corona schwer, ihre Kosten zu begleichen. In der Epidemie bleibt da nur wenig Handlungsspielraum.

Erdogan hingegen gibt ungern zu, dass die Staatskassen leer sind. Lieber lobt er die starke türkische Wirtschaft. Doch dass er nun Spenden sammeln muss, um Menschen in Not zu helfen, offenbart, dass kein Geld mehr da ist. Zwar schnürte auch er ein Corona-Hilfspaket in Höhe von 14-Millionen-Euro, stellte Kurzarbeit und Kreditaufschub in Aussicht, hob die Mindestrente an. Doch die sozialen Hilfen des Paketes reichen kaum.

Ohnehin gibt es in der Türkei kein umfangreiches Sozialsystem mit Sozialgeld, Wohn- oder Kindergeld wie in Deutschland. Zudem arbeiten viele Menschen in der Türkei schwarz, insbesondere in der Gastronomie oder im Tourismus. Das sind genau die Branchen, die von der Corona-Krise am heftigsten betroffen sind. 415.000 Menschen hätten in Istanbul bereits soziale Unterstützung beantragt, erklärt Imamoglu. Eine Verarmung großer Teile der türkischen Bevölkerung ist damit ebenso bedrohlich wie das Virus selbst.

Es geht auch anders

Wie schwer auch die medizinische Lage ist, lässt sich aus den Appellen der türkischen Ärzte-Kammer herauslsen. Sie warnen seit Tagen, dass die türkischen Fall- und Todeszahlen weit höher liegen als die offiziell bekanntgegebenen. Allein in Istanbul seien schon weit über 1000 Ärzt*nnen und Pfleger*nnen an Corona erkrankt.

Im hochkarätig besetzten, von Erdogan einberufenen Corona-Wissenschaftsrat sitzen jedoch keine Vertreter*innen der Ärztekammer; für den Präsidenten ist der Verbund eindeutig zu kritisch. Imamoglu hat nun seinen eigenen Wissenschaftsrat ins Leben gerufen, die Istanbuler Ärztekammer ist mit an Bord. Er zeigt: Es geht auch anders.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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