Türkei: Chinesische CoronaVac-Impfung und viele offene Fragen
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Im Familien-Gesundheitszentrum im Istanbuler Stadtteil Moda herrscht munteres Treiben. Seit vegangenem Donnerstag wird hier der Corona-Impfstoff des chinesischen Herstellers Sinovac geimpft. Die „CoronaVac“ kann in normalen Kühlschränken gelagert und deswegen auch in den weitverbreiteten allgemeinärztlichen Zentren wie diesem verteilt werden.
Allgemeinarzt Dr. Eyüp Borucu und sein Team ließen sich gleich am ersten Tag impfen. Heute schafft er es kaum, die Fragen der Journalistin zu beantworten, ständig will jemand etwas von ihm. Ein älterer Herr klopft von außen ans Fenster und fragt, wann er denn geimpft werden dürfte. „Sie kriegen eine Nachricht auf ihr Handy, wenn sie dran sind“, erklärt der Arzt lächelnd und zeigt geduldig, wie man die dafür notwendige App herunterlädt. Dann klopft ein Zahnarzt an die Tür des Behandlungszimmers. Er habe sich in einem nahegelegenen Privatkrankenhaus impfen lassen wollen, aber da sei der Impfstoff schon ausgegangen. Dr. Borucu beauftragt eine Pflegerin, das zentrale Impfsystem am Computer zu kontrollieren. Schon wenige Minuten später wird dem Zahnarzt die Nadel in den Arm gestochen. Er ist einer von über 800.000 Menschen, die bis Montagmittag im Land geimpft wurden. Damit legt die Türkei ein schnelleres Tempo vor als so manches europäisches Land vor.
Unklarheit über die Wirksamkeit des Impfstoffs
Drei Millionen Impfstoffdosen CoronaVac sind laut Ankara bisher geliefert worden, 50 Millionen Dosen wurden insgesamt bestellt. Der chinesische Impfstoff erhielt Mitte vergangener Woche in der Türkei eine Notzulassung. Umgehend ließ sich Gesundheitsminister Fahrettin Koca vor laufenden Kameras impfen, Präsident Erdogan tat es ihm einen Tag später nach. Das sollte in der Bevölkerung für Vertrauen sorgen. Denn die Phase-3-Studien der CoronaVac sind noch gar nicht abgeschlossen, über die Wirksamkeit herrscht große Unklarheit.
Brasilien erklärte vergangene Woche, der Impfstoff habe im eigenen Land nur eine Wirkung von 50,38 Prozent gezeigt. Die Türkei gibt an, die Wirksamkeit läge in ihren Tests bei 91 Prozent. Dr. Borucu zweifelt an diesen Zahlen, er rät seinen Patienten trotzdem zu einer Impfung: „Es ist durch Studien erwiesen, dass die CoronaVac nicht schadet. Und sie verhindert zumindest schwere Verläufe. Es mag vielleicht nicht wirksamste Impfung der Welt sein, aber immer noch besser als gar keine“, findet der Allgemeinarzt.
Viele Fragen sind noch offen
Erdogans Regierung verschwieg viele Monate lang die wahren Corona-Fallzahlen. Nun fragen sich viele Türk*innen, ob sie beim Thema Impfstoff die ganze Wahrheit erfahren. An wievielen Menschen wurde der Stoff vorab in der Türkei getestet, aus welchen Alters- und Risikogruppen? Warum bestellte Ankara gerade diesen Impfstoff? Wie viel wurde dafür bezahlt? Und warum wird er erst jetzt geimpft, obwohl er schon am 11. Dezember geliefert werden sollte? Auf all das gibt die Regierung keine klaren Antworten, beklagt die türkische Ärztekammer zum Impfstart in einem Statement. Doch ohne Transparenz sei kein Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen – und das sei ein Muss für eine erfolgreiche Impfkampagne, so der Ärzteverband.
In der Türkei herrscht allgemein keine große Impfskepsis – aber eine Skepsis gegen die chinesische Impfung. Das mag auch daran liegen, dass viele mit dem Label „made in China“ schlechte Qualität verbindet. Dass die BionTech-Impfung in Deutschland von zwei türkischstämmigen Forschern entwickelt wurde, erfüllt viele Türk*innen mit großem Stolz. Zugleich vertrauen viele gerne auf deutsche Qualität – nicht nur bei Waschmaschinen und Autos, sondern auch beim Impfstoff. Der Gesundheitsminister erklärte zunächst, der BionTech-Impfstoff sei schwerer zu lagern. Dann verkündete er Ende des Jahres, man würde bald 550.000 und bis März sogar 4,5 Millionen Dosen Impfstoff von BionTech erhalten – angekommen ist davon aber wohl noch keine.
Wer wird zuerst geimpft?
Streitbar ist auch die Reihenfolge, in der geimpft werden soll. Die Liste entstand nicht als Ergebnis einer breiten gesellschaftlichen Debatte, sondern wurde – wie so vieles in der derzeitigen Türkei – von oben diktiert. Ganz oben stehen das Personal medizinischer Einrichtungen und Menschen über 65. Darüber herrscht Konsens. Für Verwunderung sorgt aber die anschließende Reihenfolge: Es folgen Verteidigungs-, Innen- und Justizministerium, Wachpersonal und Gefängnisse. Lehrer*innen sind erst an siebter Stelle der zweiten Gruppe zu finden.
Dabei gab es in der Türkei bis auf wenige Wochen im Herbst seit März keinen Präsenzunterricht mehr, empört sich die bekannte Kolumnistin Nagehan Alçı auf dem Nachrichtenportal Habertürk: „Mit dieser Logik scheint es schwierig, die Schulen bis zum Frühjahr wiederzueröffnen. Wenn wir ein Land sind, das sich um die Bildung unserer Kinder, also die künftigen Generationen dieses Landes kümmert, müssen wir die Lehrer ganz oben auf diese Liste setzen“, so die Journalistin. Doch Bildung hatte in den vergangenen Monaten wenig Priorität. Und Kinder und Jugendliche, die seit Monaten nur drei Stunden am Tag nach draußen dürfen, haben in Ankara anscheinend keine Lobby.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.