Türkei: Bringt die Währungskrise Erdogan zu Fall?
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Der Istanbuler Taksimplatz ist am Mittwoch großräumig mit Barrikaden abgeriegelt. Auf anderen Plätzen der Türkei warten Wasserwerfer und duzende Polizist*innen mit Tränengasgewehren auf Demonstrant*innen. Die Angst der Regierung vor einem Aufstand des Volkes scheint groß.
Die Lira im freien Fall
Die türkische Lira verliert seit Jahren an Wert, aber noch nie stürzte sie so schnell und so tief wie in dieser Woche. Am Dienstag kostet ein Euro über 14 Lira, am Montag waren es noch 12,6 Lira. Seit Anfang des Jahres hat die Lira gar einen Werteverlust von 40 Prozent zu verzeichnen.
Den Absturz leitete zunächst die türkische Zentralbank ein: Vergangene Woche senkte sie den Leitzinses von 16 auf 15 Prozent, nachdem Staatspräsident Erdogan genau das gefordert hatte. Es war die dritte Leitzinssenkung innerhalb von drei Monaten. Nach üblichen ökonomischen Regeln müsste die Zentralbank eigentlich das Gegenteil tun, denn die Inflation im Land liegt offiziell bei 20 Prozent. Erspartes verliert nun automatisch an Wert. Als Gegenreaktion wechseln viele Türk*innen derzeit ihr Erspartes in Fremdwährung, auf türkischen Banken liegen 58 Prozent der Einlagen in Dollar.
Zu viele Probleme angehäuft
Am Dienstag dann befeuerte Erdogan die Krise noch einmal: Er rief einen wirtschaftlichen „Befreiungskrieg“ aus. Das Land solle sich von seiner Abhängkeit zum Ausland befreien, die Zinssenkung solle die heimische Wirtschaft ankurbeln, den Export beflügeln. Ohnehin macht Erdogan seit Jahren eine ominöse internationale „Zinslobby“ für den Werteverlust der heimische Währung verantwortlich.
Für den renommierten türkischen Wirtschaftswissenschaftler Musfata Sönmez kommt die Währungskrise nicht überraschend: „Wir haben das leider erwartet. Zu viele Probleme haben sich angehäuft“, erklärt er. Die Türkei leide schon seit Jahren an einem enormen Währungsdefizit, importiere viel mehr als sie exportiere. Zudem hätten sich fast 450 Milliarden Dollar Auslandschulden angehäuft.
Die derzeitige Krise habe aber vor allem politische Ursachen, meint Sönmez: „Das Vertrauen in die Erdogan-Regierung hat enorm abgenommen. Der Ein-Mann-Herrscher, der sich nicht um die Unabhängigkeit der Zentralbank schert und alles selbst entscheidet, hat ausländische Investoren verschreckt.“
Die Opposition fordert einen Regierungswechsel
Erdogan ließ im letzten Jahr zweimal den Zentralbankchef per Dekret austauschen. 128 Milliarden Dollar an Zentralbankreserven wurden in den vergangenen Jahren auf den Markt geworfen, um den Verfall der Lira zu stoppen. Jetzt stünden kaum noch Mittel zur Verfügung, sagt Sönmez. Zugleich wolle Erdogan weder die Zinsen erhöhen noch den internationalen Währungsfond um Hilfe bitten. „So kann er den Werteverlust der Lira nicht aufhalten“, so der Wirtschaftswissenschaftler. Erdogans „Befreiungskrieg“ offenbare daher keine neue Strategie, sondern nur seine Hilflosigkeit.
Die türkische Opposition sieht als einzigen Ausweg nur einen Regierungswechsel. Kemal Kilicdaroglu, Chef der säkular orientierten republikanischen Volkspartei CHP, einer Schwesterpartei der SPD, rief in diesen Tagen zu Neuwahlen auf, ebenso taten es andere Oppositionsparteien. Sie präsentieren sich so einig wie selten. Umfragen zeigen, dass die Wähler*innenstimmen für Erdogans AKP zunehmend abnehmen, derzeit liegen sie bei 32,5 Prozent – bei den Wahlen im Jahr 2018 waren es noch 42,49 Prozent.
Das Oppositionsbündnis kommt derzeit auf mehr Stimmen als Erdogans Wahlbündnis mit der ultrarechten MHP. Im Oktober befürworteten laut Umfragen nur noch 39 Prozent der Türk*innen Erdogans Regierungsstil, 54,5 Prozent lehnten ihn ab. Das deutet darauf hin, dass Erdogan Neuwahlen so lange wie möglich meiden wird. Denn solange die Währungskrise anhält, wird sein Sieg immer unwahrscheinlicher.
Ausländische Produkte sind unerschwinglich
Die Währungskrise trifft vor allem einkommensschwache Wählerschichten, also traditionelle Erdogan-Wähler*innen, die als Angestellte arbeiten und kaum Rücklagen besitzen. Ihr Lohn ist täglich weniger wert, vor allen Lebensmittelpreise und Mieten explodierten im letzten Jahr. Die Krise trifft auch die Mitttelschicht, die in den ersten Jahren der Erdogan-Regierung ihren Wohlstand ausbauen konnte.
Ausländische Produkte wie Mobiltelefone oder Autos sind unerschwinglich geworden, ein Eigenheim bleibt für viele ein Traum, ebenso Reisen ins Ausland. Zu den Gewinner*innen der Krise zählen dagegen Menschen mit großen Dollar-Ersparnissen oder Unternehmen, die fürs Ausland produzieren. In der Türkei zu produzieren war selten günstiger. So erlebt etwas die türkische Textilbranche, die für viele europäische Modemarken produziert, derzeit ein Rekordjahr. Breite Bevölkerungsschichten hingegen erwarten ängstlich den Winter.
In mehreren Städten der Türkei sind Menschen bereits aus Protest auf die Straßen gegangen, die Polizei nahm duzende Demonstrant*innen fest. Der Hashtag #hükumetistifa – übersetzt „Regierung trete ab“ – war auf Twitter am Dienstag die Nummer eins. Die Polizist*innen harren nicht ohne Grund auf den Plätzen des Landes aus.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.