Tunesien: Was die Absetzung der Regierung für das Land bedeutet
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Nach massiven Protesten im ganzen Land gegen die tunesische Regierung hat Präsident Kais Saied Premier Hichem Mechichi entlassen und das tunesische Parlament für 30 Tage eingefroren. Was war der Auslöser für die Proteste? Wie wird das Vorgehen Saieds in der Bevölkerung gesehen?
Die Unzufriedenheit der Bevölkerung bahnte sich seit längerem an. In den sozialen Medien war vielfach dazu aufgerufen worden, am 25. Juli gegen die Regierung zu demonstrieren. In vielen Städten kamen die Menschen diesem Aufruf nach.
Der Unmut der Bevölkerung entlud sich vornehmlich gegen die moderat islamistische Ennahda-Partei, die an der Regierung beteiligt ist. Tunesien steckt in einer tiefen Krise. Zehn Jahre nach der Revolution geht es den Menschen nicht wirklich besser, sowohl wirtschaftlich als auch in vielen sozialen Belangen. Gerade auch im Kontext der Pandemie wuchs der Unmut gegen die Regierung weiter an. Die Regierung wird – zu Recht – als ineffektiv angesehen: Sie hat es weder geschafft, Reformen auf den Weg zu bringen, um die allgemeine politische und wirtschaftliche Lage des Landes zu verbessern, noch die Pandemie in den Griff zu bekommen. Tunesien steht im internationalen Vergleich sehr schlecht da.
Man muss die Proteste vor diesem Hintergrund verstehen. Hinzu kommen auch Faktoren wie die zunehmende Polizeigewalt, gerade gegen junge Protestierende in den letzten Wochen. Die soziale Sprengkraft der vielfältigen Probleme veranlasste Präsident Saied, die Regierung zu entlassen und die Parlamentstätigkeit einzufrieren.
Die Entscheidung des Präsidenten stößt bislang auf relativ große Zustimmung bei der Bevölkerung. Am Sonntagabend, als die Entscheidung verkündet wurde, gab es Autokorsos, Hupkonzerte, Feuerwerke – die Menschen feierten auf der Straße. Zumindest in der Mittelschicht und im Ballungsraum Tunis sehen es viele als den einzigen Weg aus der politischen Krise und unterstützen die Entscheidung des Präsidenten.
Saied beruft sich auf die tunesische Verfassung. Die meisten Parteien im Parlament, allen voran die Ennahda, sprechen dagegen von einem „Angriff auf die Demokratie“ – manche sogar von einem Staatsstreich. Wie ist das zu bewerten?
Präsident Saied beruft sich auf Artikel 80 der Verfassung, der es ihm nach seiner Auffassung erlaubt, eine Art Notstand auszurufen und per Dekret zu regieren. Er will dies zunächst für 30 Tage tun. Die Interpretation Saieds, der Professor für Verfassungsrecht ist, ist allerdings etwas weit hergeholt. Artikel 80 besagt zum Beispiel auch, dass das Parlament in dieser Situation weiterregieren soll, was mit dem Einfrieren des Parlaments durch Saied nicht vereinbar ist.
Saied hat sich die Rosinen aus diesem Artikel herausgepickt, die ihm für sein politisches Manöver passen. Ob man das Ganze als einen Staatsstreich bezeichnen soll, ist natürlich auch fraglich – auf jeden Fall ist es kein gewaltsamer Putsch. Tatsache ist, dass es einen politischen Impasse gibt. In der Bevölkerung gibt es für Saieds Schritt Rückhalt. Auch wenn das Vorgehen nicht hundertprozentig verfassungskonform ist, könnte man darin den einzigen Ausweg aus der politischen Blockade sehen.
Wie verhalten sich die Polizei und das Militär?
Polizei und Militär haben sich bislang zurückgehalten. Das Militär untersteht dem Oberbefehl des Präsidenten, während die Polizei dem Innenminister unterstellt ist – und damit auch dem jetzt entlassenen Premier Mechichi. Potenziell gäbe es hier eine Konfliktlinie zwischen den Sicherheitskräften. Zur Zeit zeichnet sich das aber nicht ab: Die Polizei bleibt bisher unparteiisch und versucht, für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Das ist eine positive Entwicklung und es ist zu hoffen, dass das so bleibt. Das Militär hält sich ebenfalls zurück, verhinderte aber entsprechend den Anweisungen Saieds den Versuch des Parlamentssprechers und Ennahda-Anführers Rached al-Ghannouchi, das Parlament wieder zu betreten.
Tunesien galt – trotz der wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen – lange als Erfolgsmodell einer aus dem sogenannten „Arabischen Frühling“ hervorgegangenen Demokratie. Muss man nun das Abrutschen in den Autoritarismus fürchten?
Ob die jüngsten Entwicklungen bedeuten, dass das Demokratieexperiment Tunesiens gescheitert ist und das Land zurück in ein autoritäres Regime fällt, bleibt abzuwarten. Die Tendenz ist sicherlich beunruhigend. Präsident Saied hat Artikel 80 sehr „liberal“ in seinem Sinne ausgelegt, und Zweifel an der Verfassungskonformität dieser Entscheidung sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Er hat allerdings angekündigt, die Demokratie schützen zu wollen. Ich hoffe, dass wir ihn da beim Wort nehmen können und es nicht dazu kommt, dass die hart erkämpften demokratischen Errungenschaften rückgängig gemacht werden.
Saieds Ziel ist es seit langem, eine Form von Basisdemokratie in Tunesien zu installieren. Ob der aktuelle Schachzug nun auch als Mittel zu diesem Zweck dienen soll, bleibt abzuwarten. Saieds generelle politische Marschrichtung galt bislang als bekannt, über viele konkrete Aspekte herrscht jedoch Unklarheit.
Der Präsident hätte diesen Schachzug kaum vollzogen, wäre er sich nicht eines großen Rückhalts in der Bevölkerung sicher gewesen. Diese Unterstützung ist auch auf Politik- und Demokratieverdrossenheit zurückzuführen. Viele Menschen kritisieren die politischen Eliten, stehen gleichzeitig aber hinter den demokratischen Errungenschaften in Tunesien. Die Unterstützung für den Präsidenten kommt also keinesfalls nur von anti-demokratischen Kräften.
Erschienen am 26. Juli im IPG-Journal.
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