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Tunesien in der Krise: Wie Deutschland den Wandel unterstützen kann

Die aktuelle Krise in Tunesien bedeutet nicht das Ende der demokratischen Transformation. Damit diese gelingt, braucht das Land zuverlässige Partner. Denn Land und Bevölkerung leiden seit der Revolution 2011 unter chaotischen Regierungsverhältnissen.
von Johannes Kadura · 21. September 2021
In Tunesien dauern die Proteste nach der Machtübernahme des Präsidenten an.
In Tunesien dauern die Proteste nach der Machtübernahme des Präsidenten an.

Am 25. Juli entschied der tunesische Präsident Kais Saied, die Regierung von Premierminister Hichem Mechichi zu entlassen und die Arbeit des Parlaments auszusetzen. Dabei legte er Artikel 80 der tunesischen Verfassung von 2014 auf seine ganz eigene Weise aus. Mit diesem Schlussstrich reagierte er auf die Massenproteste gegen die unausgegorene Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierungen, die seit der Revolution von 2011 nacheinander an der Macht waren. Seit seinem Amtsantritt hatte Saied wiederholt angekündigt, dass er dem „politischen Chaos“ ein Ende setzen werde, und versprach den Tunesierinnen und Tunesiern „den Beginn einer neuen Ära“. Seit vielen Jahren leidet die tunesische Bevölkerung unter einer beispiellosen Wirtschaftskrise; die Schuldenquote des Landes beträgt über 100 Prozent. Verschärfend kamen die Corona-Krise und deren Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hinzu. Dies führte zu vermehrten Protesten, die oftmals verboten und massiv unterdrückt wurden. Menschenrechtsorganisationen prangerten das gewaltsame Vorgehen des Staates an.

Präsident mit Rückhalt in der Bevölkerung

Ein wesentliches Motiv, das den Präsidenten veranlasste, den Ausnahmezustand auszurufen und die uneingeschränkte Kontrolle über das Land zu übernehmen, ist der politische Stillstand im Parlament. Es wurde 2019 gewählt, ist aber zersplittert und nicht in der Lage, ordnungsgemäß seine Funktionen zu erfüllen. Auch der Zusammenbruch des Gesundheitssystems trug zu seiner Entscheidung bei. Dass Präsident Saied die Regierung kurzerhand entmachtete, wird von einem großen Teil der Bevölkerung begrüßt, von der Regierungsmehrheit jedoch als Staatsstreich gewertet. Die tunesischen Sozialpartner UGTT und UTICA sowie die wichtigsten Organisationen der tunesischen Zivilgesellschaft verfolgen aufmerksam das weitere Vorgehen und fordern vom Präsidenten einen klaren Fahrplan, wie es weitergehen soll.

Saied scheint es jedoch nicht eilig zu haben, näher zu erläutern, was er vorhat. Immerhin gab sein Sprecher bekannt, der Präsident wolle das seit 2014 bestehende parlamentarische System in ein Präsidialsystem umwandeln. Es ist daher davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten ein Referendum über die Änderung des politischen Systems oder gar die Ausarbeitung einer neuen Verfassung stattfindet. Das ist sicherlich ein schwerer Schlag für die einzige Demokratie, die aus dem Arabischen Frühling hervorging. Es bedeutet aber keineswegs das Ende des langen Prozesses, den Tunesien durchläuft, zumal die freie Presse und eine starke Zivilgesellschaft auch weiterhin als Kämpfer für die Wahrung der Menschenrechte und Freiheiten bereitstehen.

Keine Militärdiktatur zu befürchten

Dass sich das ägyptische Szenario wiederholt, ist unwahrscheinlich. Denn für Tunesien gelte, so die tunesische Politikwissenschaftlerin Khadija Mohsen Finan, dass nicht automatisch wieder das alte Regime an die Macht komme, sollte der politische Übergang wegen schlechter Regierungsführung nicht gelingen. Die Konterrevolution habe nicht gesiegt und dafür stehe Saied auch gar nicht. Im Gegenteil berufe er sich nach wie vor auf den Geist von 2011. Der tunesische Präsident ist, anders als sein ägyptischer Amtskollege, kein Mann des Militärs, und die tunesische Armee hat sich seit der Unabhängigkeit 1956 nie in die Politik eingemischt und sich auf diese Weise den Respekt und das Vertrauen des Volkes erworben. Eine Rückkehr zur Diktatur ist daher auszuschließen, auch wenn Saied vorübergehend alle Macht an sich gerissen hat.

Wenn die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Lage jedoch instabil bleiben sollte und sich keine klaren Lösungsansätze abzeichnen, sind aufgrund der hohen Lebenshaltungskosten und der fehlenden Perspektiven soziale Unruhen durchaus denkbar. Daher tut Saied gut daran, einen Ökonomen zum Regierungschef zu ernennen, der die Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) führt. Der IWF, der die Wirtschaft des Landes fest im Griff hat, und die anderen multilateralen Gläubiger halten allein fast 50 Prozent der staatlichen Auslandsschulden des Landes. Dass es im Rahmen von Unruhen zu Gewalttaten kommt, ist nicht absehbar. Möglich sind hingegen terroristische Aktionen mit dem Ziel, den einzigen demokratischen Übergangsprozess in der arabischen Welt zu torpedieren. In diesem Extremfall könnte die Armee eingreifen, um die Macht zu übernehmen und „die Ordnung wiederherzustellen“.

EU: Skepsis gegenüber Kais Saied

Die Europäische Union hat die Ereignisse des 25. Juli mit Skepsis registriert, weil Kais Saied weder sein Vorgehen noch seine weiteren Pläne offengelegt hat. Josep Borrell, der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik und Vizepräsident der Europäischen Kommission, bekräftigte bei seinem letzten Besuch die europäischen Bedenken, ob Tunesien seine demokratischen Errungenschaften werde wahren können.

Tunesien sollte in dieser Umbruchphase auf seine Partner*innen setzen, insbesondere auf Deutschland. Die seit fast 65 Jahren bestehenden Beziehungen zwischen beiden Ländern sind nach der Revolution erheblich intensiver geworden. Viele Tunesier*innen bringen Deutschland mehr Wertschätzung entgegen als jedem anderen Land. Deutschland war das erste Land, das sich massiv in den tunesischen Transformationsprozess eingebracht und Tunesien in den Rang eines strategischen Partners erhoben hat.

Der Weg der Transformation ist allerdings lang und beschwerlich und wird durch wirtschaftliche Probleme, wiederholte Terroranschläge und vor allem durch das Versagen der politischen Akteure zusätzlich erschwert. Dies liegt nicht nur am dysfunktionalen Wahlsystem von 2011, sondern auch daran, dass die Politiker*innen es nicht geschafft haben, das nationale Interesse über parteipolitische und persönliche Interessen zu stellen. Tunesien ist daher nicht nur auf die finanzielle Hilfe der EU und insbesondere Deutschlands angewiesen, um seine Demokratie zu stärken, sondern braucht auch Unterstützung beim Aufbau stabiler und nachhaltiger Institutionen. Dies würde die Gefahr des Politikversagens und der ausländischen Einflussnahme auf tunesische Angelegenheiten eindämmen.

Nährboden für Konflike und Einfluss von außen

Seit 2011 bietet das Land einen idealen Nährboden für Konflikte zwischen den Golfmonarchien: zwischen Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) auf der einen und dem von der Türkei unterstützten Katar auf der anderen Seite. Die VAE, deren Rolle in der Region oft verkannt wird, führen gemeinsam mit den Saudis einen Feldzug gegen Katar, den politischen Islam und im weiteren Sinne auch gegen die Demokratie. In Riad wie auch in Abu Dhabi zieht man Ordnung und Stabilität der Demokratie vor. Für Katar und die Türkei, die wichtige Verbündete Washingtons sind und die der Muslimbruderschaft nahestehen, gilt das Gleiche. Beide Länder haben in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich die islamistische Ennahdha-Partei in Tunesien unterstützt. Die VAE und die hinter ihnen stehenden Saudis griffen im Gegenzug dem inzwischen verstorbenen ehemaligen Präsidenten Beji Kaid Essebsi und der von ihm gegründeten säkular ausgerichteten Partei Nidaa Tounes finanziell unter die Arme. Der Einbruch der islamistischen Ennahdha-Partei bei den Wahlen 2019 war ein herber Schlag für die Türken und Kataris, die ihre Hoffnungen auf eine regionale Vorherrschaft schwinden sahen.

Präsident Saied hat seit seiner Wahl immer wieder deutlich gemacht, dass es keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten und souveränen Entscheidungen Tunesiens geben werde. Damit reagierte er auf die türkische Forderung, in Tunesien die demokratische Legitimität gemäß den Vorgaben der Verfassung wiederherzustellen, und auf das G7-Kommuniqué, in dem die Staaten dazu aufriefen, rasch einen neuen Regierungschef zu ernennen und zu einer rechtsstaatlichen Ordnungzurückzukehren. Es liegt im Interesse Tunesiens und seiner nördlichen Nachbarn, das Vertrauensverhältnis zu festigen und die Zusammenarbeit zu stärken.

Deutschland: wichtigster Partner für Investitionen

Deutschland sollte seine politische und finanzielle Unterstützung für seinen privilegierten Partner Tunesien fortführen. Eine wichtige Rolle spielen dabei Mittel für die Modernisierung der Infrastruktur – Eisenbahn, Häfen, Kraftwerke, Schulen und Krankenhäuser. Die tunesische Führung sollte ermutigt werden, das Finanz- und Wirtschaftssystem transparenter zu gestalten und die notwendigen Reformen zur Verbesserung des Investitionsklimas anzustoßen. Im Gegenzug sollte die Bundesregierung deutsche und europäische Unternehmen motivieren, in Tunesien zu investieren und sich am dringend erforderlichen wirtschaftlichen Wiederaufbau zu beteiligen. Ein Aufschwung in Tunesien wäre aus geopolitischer, sozialer und wirtschaftlicher Sicht eine Win-Win-Situation. Nicht zuletzt würden ein Erstarken der tunesischen Wirtschaft, die Verringerung der hohen Arbeitslosigkeit und eine Verbesserung der Lebensqualität auch dazu beitragen, dass verzweifelte Tunesierinnen und Tunesier nicht mehr den letzten Ausweg in der irregulären Migration suchen müssten.

Aus dem Französischen von Christine Hardung

Dieser Artikel erschien zuerst im IPG-Journal.

Autor*in
Johannes Kadura

ist Landesvertreter der Friedrich-Ebert-Stiftung auf den Philippinen. 

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