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Tschernobyl: Bis heute ist das Ausmaß der Katastrophe unbekannt

30 Jahre nach dem Reaktorunfall von Tschernobyl sind Teile der Ukraine und Weißrusslands verwüstet und menschenleer. Immer mehr Menschen erkranken an Krebs, leiden an psychischen und nervösen Störungen. Doch das ganze Ausmaß der Katastrophe ist bis heute unbekannt.
von Jörg Hafkemeyer · 25. April 2016
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Es ist der 26. April 1986, als über die nicht sehr große Sowjetrepublik Weißrussland mit ihren zehn Millionen Einwohnern eine Katastrophe von kaum vorstellbaren Ausmaß hereinbricht: Im am Kiewer Stausee gelegenen AKW Tschernobyl explodieren im vierten Reaktorblock der Reaktor und das Gebäude. Die spätere Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch fasst zusammen: „Die Katastrophe von Tschernobyl wurde zur größten technologischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts.“ Sie erschüttert und ruiniert Menschen, Tiere und Pflanzen, Landschaften mit ihren Sümpfen und Gewässern jedoch sie bedroht noch nicht das sowjetische System, das ein Jahr zuvor Michail Gorbatschow als neuen, modernen Generalsekretär hervor gebracht hatte. Aber das System funktioniert wie in all den zurückliegenden Jahrzehnten. Es ist ignorant, es ist schlampig und vor allem, es vertuscht.

Statistiken nach Tschernobyl

Zehn Jahre später, im April 1996, veröffentlicht die Zeitung Orgonjok einen Artikel über Tschernobyl, in dem es unter anderem heißt: „Der Reaktor 4, als Objekt „Mantel“ bezeichnet, enthält in seinem Blei-Stahlbeton-Leib nach wie vor cirka 20 Tonnen Kernbrennstoff. Was heute damit passiert, weiß niemand.“ Und aus dem rasch zusammengefügten Sarkophag dringen fortwährend radioaktive Aerosole nach außen. Die bekannt gewordenen Statistiken sind bestürzend: Vor dem Reaktorunfall gab es in Weißrussland 82 Krebserkrankungen auf 100 000 Einwohner. Knapp drei Jahrzehnte später sind es 6000 Erkrankungen.

Dabei sind bis heute viele Zahlen unbekannt. In ihrem in deutscher Sprache 2011erschienenen Buch „Tschernobyl, eine Chronik der Zukunft“ schreibt Swetlana Alexijewitsch darüber: „Die Zahlen werden geheim gehalten, weil sie so ungeheuerlich sind. Die Sowjetunion schickte  800.000 Wehrpflichtige und Liquidatoren an den Ort der Katastrophe, das Durchschnittsalter der letzteren lag bei 33 Jahren. Die Rekruten hatte man gleich nach der Schule einberufen. Allein in Weißrussland umfasst die Liste der Liquidatoren 115 493 Namen. Zwischen 1990 und 2003 starben laut Angaben des Gesundheitsministeriums 8533 Liquidatoren. Zwei Menschen am Tag.“ Mehr und mehr Menschen erkranken seit der Katastrophe an Krebs, an psychischen und nervösen Störungen, bleiben geistig zurück. Es gibt genetische Mutationen.

Verwüstet und menschenleer

Als Swetlana Alexijewitsch 2012 ihr Tschernobyl-Buch im Willy-Brandt-Haus einem zahlreich erschienenen Berliner Publikum vorstellt, ist die 1948 in einem kleinen weißrussischen Dorf geborene Autorin zurückhaltend, fast schüchtern, erzählt mit leiser Stimme: „Ich erinnere mich an meine ersten Fahrten in die Tschernobylzone: Am Himmel kreisten dutzende Hubschrauber, über die Straßen donnerten Militärfahrzeuge, sogar Panzer, Soldaten mit Maschinenpistolen waren unterwegs. Auf wen sollten sie schießen? Auf die Physik? In der Nähe des brodelnden Reaktors liefen die Wissenschaftler lange Zeit in ihrer normalen Kleidung herum. In Tschernobyl dachten die Menschen noch nicht in den Dimensionen von Tschernobyl. Sie verhielten sich wie im Krieg.“

Die Opfer und die Zeugen sprechen in diesem beeindruckenden Buch der weißrussischen Autorin. Ljudmila Ignatenko, die Frau des umgekommenen Feuerwehrmanns Wassili Ignatenko, ist eine von ihnen: „Ich weiß nicht, was ich erzählen soll – vom Tod oder von der Liebe? Oder ist das ein und dasselbe? Ich weiß es nicht.“ Auch 30 Jahre danach sind Teile der Ukraine und Weißrusslands verwüstet, menschenleer: „Während des großen Vaterländischen Krieges zerstörten die deutschen Faschisten auf weißrussischem Boden 619 Dörfer mit ihren Bewohnern. Nach Tschernobyl verlor das Land 485 Dörfer und Siedlungen,“ berichtet Swetlana Alexijewitsch: „70 davon sind bereits für immer dem Erdboden gleichgemacht. Im Krieg fiel jeder vierte Weißrusse, heute lebt jeder fünfte auf verseuchtem Gebiet.“

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Autor*in
Jörg Hafkemeyer

ist Journalist, Gast-Dozent für Fernsehdokumentation und -reportagen an der Berliner Journalistenschule und an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin sowie Honorarprofessor im Studiengang Kulturjournalismus an der Berliner Universität der Künste (UdK).

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