Alle lieben Lena - weil sie so normal ist. Alle lieben Margot Käßmann, weil sie zurückgetreten ist. Alle lieben Helmut Schmidt, weil er noch immer raucht. Und sogar der FC Bayern wird neuerdings geliebt, weil er auf einmal schönen Fußball spielt.
Offenbar sind wir bescheiden geworden. Schon kleine Anlässe erfreuen unser Herz über die Maßen. Wir erwarten nicht mehr viel. Am wenigsten von der Politik. Die Banken, den Euro, die Griechen retten, für Afghanistan bluten - und Obama ist auch eine Enttäuschung. Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht spüren, dass sie in Berlin, Paris, London und Washington nicht mehr weiter wissen - herrliche Zeiten für die Opposition. Sie muss eigentlich gar nichts tun. Es genügt, der Regierung beim Abstürzen zuzuschauen. Bis zur nächsten Bundestagswahl reicht es wieder ganz von selbst für Rot-Grün. Und dann? Wird Rot-Grün weiterwursteln und abstürzen. Und Schwarz-Gelb sich erholen. Ein ewiger Kreislauf.
Und darum sind die Zeiten für die Opposition eben doch nicht so herrlich. Sie hat zwar nicht die Pflicht, eine marode Wunschkoalition vorzeitig abzulösen und aus dem Stand die
Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Aber sie hat jetzt die Pflicht, ein großes Programm zu entwickeln, einen Zwölfjahresplan, eine mitreißende Vision. Es wäre die Zeit, bis zur nächsten
Bundestagswahl ein paar grundlegende Fragen zu beantworten.
Plan für einen Sonnenstaat
Zum Beispiel: Jeder neue Finanzminister tritt mit dem Versprechen an, das Steuersystem zu vereinfachen, die Steuern zu senken und die Schulden abzubauen. Wenn er dann wieder abtritt, ist
das Steuersystem komplizierter, die Steuerlast größer und der Schuldenstand höher als zuvor. Jeder neue Verkehrsminister verkündet, den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu verlegen. Wenn
der Minister wieder geht, haben wir das Gegenteil. Jeder neue Wirtschaftsminister verspricht, die Bürokratie abzubauen. Dann wuchert sie einfach weiter. Jeder neue Gesundheitsminister sagt, dass
er die Kostenexplosion im Gesundheitswesen stoppen werde. Dann steigen die Krankenkassenbeiträge. Warum eigentlich? Und warum kann man die Gründe nicht abstellen?
Seit 40 Jahren wissen wir, dass wir weg müssen von Gas, Kohle, Öl - nicht nur wegen CO2 und des Versiegens der Quellen, sondern auch wegen der Kriege, die wir für unseren Energiehunger in Kauf nehmen, und wegen der Umweltrisiken. Aber was geschieht? Die Ölindustrie bohrt immer weiter draußen im Meer, immer tiefer, und wenn etwas schief geht, hat sie keinen Plan und macht das Meer samt Küsten kaputt. Warum tritt in einer Zeit, in der BP das ganze Ökosystem des Golfs von Mexiko ruiniert, die SPD nicht mit einem Zwölfjahresplan zur Errichtung des ersten Sonnenstaates an die Öffentlichkeit?
Die USA brauchten einst nur zwei kleine Schocks, um aufzuwachen: Den Sputnik und Juri Gagarin, der als Erster im Weltraum um die Erde flog. John F. Kennedy sagte daraufhin am 25. Mai 1961 im
amerikanischen Kongress: "Ich glaube, dass dieses Land sich dem Ziel widmen sollte, noch vor Ende dieses Jahrzehnts einen Menschen auf dem Mond landen zu lassen und ihn wieder sicher zur Erde
zurückzubringen." Dann startete das Apollo-Programm. Acht Jahre später landete der erste Amerikaner auf dem Mond.
Zwölf Jahre kämpfen
Warum sagt uns kein Politiker: "Ich glaube, dass dieses Land sich dem Ziel widmen sollte, in zwölf Jahren vollkommen unabhängig von Gas, Kohle, Öl und Atom zu sein. Lasst uns den ersten
Sonnenstaat der Welt realisieren. Nennen wir es das deutsche Helios-Programm." Dann könnte er noch sagen: Lasst uns Ernst machen mit der Steuervereinfachung, der Verkehrsverlagerung, dem
Bürokratieabbau, der Kostensenkung im Gesundheitskosten. Aber vor allem, das ist das Wichtigste überhaupt: Lasst uns die an die globalisierte Wirtschaft verloren gegangene Macht zurückerobern.
Das Volk muss wieder souverän werden. Lasst uns zwölf Jahre lang jeden Tag dafür kämpfen, und wenn es sein muss, auch zwanzig oder dreißig Jahre.
"Think big" - diese Haltung ist jetzt gefragt in der Politik, und nicht das immerwährende Hartz-IV-, Rente-mit-67- und Kopfpauschalen-Klein-Klein. Da hört außer der ergrauten SPD-Basis schon
längst keiner mehr hin, weil die Leute eh kapiert haben: Wie immer ihr eure Mangelverwaltungsprogramme nennt und was immer ihr uns auf den Tisch legt, es wird darauf hinauslaufen, dass wir mehr
arbeiten müssen, weniger verdienen, mehr zahlen und weniger dafür bekommen. Wenn die SPD dann sagt: Aber wir werden darauf achten, dass es bei der Kujonierung der Leute wenigstens gerecht zugeht,
zappen die Leute weg und gucken, wer gerade wieder durch Rücktritt die Flucht ergriffen hat, was der FC Bayern macht, ob Helmut Schmidt noch raucht und Lena vielleicht wieder ein neues Lied
singt.
Christian Nürnberger, Jahrgang 1951, ist Autor und Journalist u.a. für die
"Süddeutsche Zeitung" und "Die Zeit".
Foto: Werner Feldmann