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IS-Terror: Ein Abend, den man nicht vergisst

Es waren Kinder der Pariser Nächte, die von Gleichaltrigen niedergemetzelt wurden. Eine in Berlin lebende Französin berichtet von der Ratlosigkeit einer gebrochenen Generation.
von Prune Antoine · 3. Dezember 2015

Für einen Freitag den 13. hat der Abend unter Freunden in Berlin gut angefangen: einige Liter Rotwein zum Apéritif, hausgemachte Quiche mit Tomaten und Reblochon, dazu die TV-Sendung „Question pour un champion“ (QPUC). Insgesamt ein nettes kleines Abendessen unter Franzosen in den Dreißigern.

Das Gefühl, die Welt würde enden

Die Unterhaltung plätschert vor sich hin, bis der erste iPhone-Alarm erklingt. Die Worte „Schießerei in Paris“ lesen, Twitter und Facebook checken, nichts auf der Seite von lemonde.fr finden, dann eine Zigarette anzünden und sich Schokoladeneis nehmen. Innerhalb von zehn Minuten eine dunkle Vorahnung in sich wachsen fühlen, eine Nachwirkung der Schockwelle nach „Charlie Hebdo“, einen Schluck Wein nehmen und die Runde bitten, FranceInfo einzuschalten, „nur um mal zu gucken“. Ungläubig Wörter hören wie „Bataclan“, „Geiselnahme“, „Selbstmordattentäter“, „mehrere Angriffe im 10. und 11. Arrondissement“. Nervös nach dem Handy greifen, um den Freunden zu schreiben, die in der Pariser Nacht unterwegs sind: „Scheiße, geht’s dir gut, wo bist du?“ Diejenigen anrufen, die nicht antworten. Fühlen, wie die Angst im Bauch wächst, dieses Déjà-vu, weniger als zehn Monate nach „Charlie Hebdo“. Das Gefühl, die Welt würde enden, das Gefühl der totalen Ohnmacht, der Orientierungslosigkeit.

Das sind so Abende, die man nicht vergisst – die man als im Ausland lebende Französin seit Januar 2015 immer wieder verbringt. Kein Zweifel, ich gehöre zur „Generation 11. September“. Die sozialen Netzwerke sind mit uns groß geworden: Vorbei die Zeiten, in denen man per „Anstupsen“ flirtete, jetzt scrollt man durch seinen Facebook-Feed, um sich zu versichern, dass die Freunde „leben“.

Gibt es so etwas wie europäische Solidarität?

Nach „Charlie Hebdo“ und dem Anschlag auf den jüdischen Supermarkt Hypercasher war ich erstaunt, wie schwierig es war, das Trauma der Attentate mit den Deutschen zu teilen. Sie blieben im Hintergrund, rational und kalt. Gibt es so etwas wie europäische Solidarität, wenn es um Terrorismus geht? Ich frage mich, ob die Leute auch so ruhig wären, wenn an einem Samstagabend in Kreuzberg 150 Menschen durch Kalaschnikows gestorben wären. Ich traue mich nicht, sie zu fragen. Ich habe niemanden, mit dem ich teilen kann, was passiert ist, außer auf Facebook. Die Diskrepanz zwischen dem äußeren „alles ist normal“ und dem, was ich fühle, ist schwindelerregend.

Die Medien aktualisieren die Liste der Opfer: Diese Thirtysomethings, wie ihr, wie ich, die am 13. November einfach niedergemetzelt wurden, weil sie sich zur falschen Zeit am falschen Ort befanden. „Génération Bataclan“ titelt Libération, um die „kosmopolitischen, feierfreudigen, offenen“ Opfer zu würdigen. „Generation Bataclan“ – benannt nach dem Konzertsaal, in dem so viele von uns brutal ermordet worden sind.

Kain und Abel

Ich frage mich, warum alle Welt so tut, als würde sie nicht sehen, dass die, die geschossen haben, mehr oder weniger im gleichen Alter sind wie die, die gefallen sind. Die, die gefallen sind, sind Kinder der Pariser Nächte, die Verkörperung der Leichtigkeit, einer Freiheit gefärbt von Sorglosigkeit und Unverfrorenheit. Die, die geschossen haben, sind die Kinder jenseits des gesellschaftlichen Grabens, Kinder des Abseits, der Kleinkriminalität und der kaputten Integration.

Zwei Welten, die nichts miteinander zu tun haben, zwei Lager, die sich gegenüberstehen, zwischen den Lichtern des Kanal Saint-Martin und der Dunkelheit der Banlieues und Sozialwohnungen – und von denen das zweite Lager beschlossen hat, das erste auszulöschen. Eine Geschichte des Neids, tragisch-komisch wie Kain und Abel. Dieses Attentat, welches weder das erste ist noch das letzte sein wird, erzählt die Geschichte einer gebrochenen Generation, einer zweigeteilten Jugend. Es ist nicht nur das Problem der französischen Jugend. Es ist die Geschichte der europäischen Jugend. In Paris, aber auch in Madrid, Berlin, London oder woanders, jenseits dieses alten Kontinents, der nun in einem Zustand fortschreitenden Zerfalls zu sein scheint. Wie die zwei Gesichter einer einzigen Generation. Zwillinge, Nachbarn – die dringend wieder vereint werden müssen.

Autor*in
Prune Antoine

wurde 1981 in Frankreich geboren und lebt seit 2008 als freie Journalistin in Berlin. Sie hat u.a. für „Madame Figaro“, „Mediapart“, „GEO“ und „Arte“ gearbeitet.

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