Streikwelle in Frankreich: Worum es im Rentenstreit geht
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Alle acht Gewerkschaften haben zum Streik gegen Macrons wichtigstes Vorhaben aufgerufen. Die Folge: Nichts geht mehr. Züge, Metros, Straßenbahnen – alles steht still. Flugzeuge bleiben am Boden. Benzin wird nicht geliefert, die Raffinerien bestreikt. Ebenso Schulen und diverse öffentliche Einrichtungen. Massive Proteste, Streiks und landesweit 220 Großdemonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmer*innen. Allein in Paris versammeln sich am 19. Januar 100.000 Demonstrierende.
Aufruf zum Streik von rechts und links
Frankreich im Aufstand gegen die geplante Rentenreform. Weit mehr als eine Million Menschen. Und, der „schwarze Donnerstag“ war erst der Auftakt der Proteste. In den kommenden Wochen sind bereits weitere und vor allem längere, intensivere Streiks angekündigt. Für den 31. Januar ist eine Streikdauer von 48 Stunden geplant, gut eine Woche darauf soll er auf 72 Stunden ausgeweitet werden.
Mit der Begründung, die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters von 62 auf 64 Jahre sei „ungerecht und der brutalste Angriff auf Arbeitnehmerrechte“ haben nicht nur alle Parteien links der Regierung ihre Anhänger*innen zu den Massenkundgebungen aufgerufen, sondern auch der rechtsradikale Rassemblement National. Das wird hart für Präsident Macron wie für seine Premierministerin Élisabeth Borne. Die Mehrheit im Parlament ist alles andere als sicher. Auch aus den eigenen Reihen droht ein gutes Dutzend abweichende Voten. Trotzdem: Macron hält fest an der Notwendigkeit, „die Rente zukunftsfest zu machen“.
Die Nettorente soll steigen
Beiträge zur Rentenversicherung sind in Frankreich bereits heute höher als in Deutschland, aber nicht paritätisch aufgeteilt. Angestellte im Privatsektor zahlen im Schnitt 10,5 Prozent des Bruttogehalts in die Rentenversicherung – Arbeitgeber*innen gut 13 Prozent. Neben diesen Beiträgen fließen reichlich Steuermittel ins System, nach offiziellen Angaben 332 Milliarden Euro im Jahr 2020. Das entspricht 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und 41 Prozent aller Sozialausgaben, der dritthöchste Stand innerhalb der EU. Nur in Griechenland und Italien liegen die Vergleichswerte noch höher, in Deutschland dagegen bei rund 10 Prozent.
Durch die Reform soll nicht nur das Renteneintrittsalter schrittweise auf 64 angehoben werden. In Zukunft müssen die Franzosen auch 43 Jahre Beiträge zahlen, um volle Rentenansprüche zu erreichen. Im Gegenzug steigt die Mindestrente auf 1200 Euro an. Einige der 42 sogenannten „régimes spéciaux“, im Grundsatz privilegierte Sonderregelungen für Staatsdiener*innen von Bahn bis Zoll, sollen zudem abgeschafft werden.
Die Nettorente französischer Durchschnittsverdiener*innen wird durch die Reform ansteigen auf dann ungefähr 74 Prozent des vorherigen Nettoeinkommens. Der Durchschnitt der OECD-Länder liegt bei lediglich 62 Prozent. In Deutschland ist das Rentenniveau noch deutlich niedriger, zumal das Rentensystem nur wenig zugunsten von Geringverdiener*innen umverteilt. Aktuell beträgt das Netto-Rentenniveau hierzulande 48 Prozent, Tendenz fallend.
Zwei Drittel der Französ*innen lehnen Macrons Vorschlag ab
Der Anteil der Menschen über 55, die noch geregelt arbeiten, beträgt in Frankreich kaum 56 Prozent – in Deutschland sind es fast 72 Prozent. Dass sich am Rentensystem grundsätzlich etwas ändern muss, findet auch in Frankreich in sämtlichen Umfragen eine Mehrheit der Menschen. Für das Versprechen, eine Rentenreform durchzusetzen, ist Emmanuel Macron sowohl 2017 als auch 2022 gewählt worden.
Das ist allerdings eine „Meinung im Grundsatz“. Sobald es konkret wird, sieht es anders aus. Den jetzigen Vorschlag lehnen zwei Drittel der Französ*innen ab. Das gilt vor allem für jedwede Erhöhung des Renteneintrittsalters. Die Rente mit 60, in den achtziger Jahren unter Präsident François Mitterrand eingeführt, gilt als wichtige soziale Errungenschaft. Sie wurde damals erkämpft und soll jetzt unter keinen Umständen wieder aufgegeben werden.
Komplett andere Diskussion als in Deutschland
In Deutschland kommt an dieser Stelle das Thema Generationengerechtigkeit in die Diskussion. Die Belastung der aktiven Generation, mit weniger Menschen höhere Rentensummen bei gleichzeitig steigender Bezugsdauer zu finanzieren würde problematisiert. Obwohl die Demografie in Frankreich durchaus ähnlich ist, wird die Frage hier komplett anders diskutiert. Hier sagen die Älteren, was wir einmal erkämpft haben, soll auch für unsere Kinder und Enkel gelten. Denn genau so wird ein „möglichst frühzeitiger“ Beginn der rétraite, der Rente allgemein empfunden: als ein wohlverdientes Recht.
Eine Erhöhung des Rentenalters begreift das Gros der Französ*innen ganz prinzipiell als gemein und ungerecht. Das Eintrittsalter wird zudem auch als Klassenproblem wahrgenommen, weil Akademiker*innen erst mit 25 bis 30 Jahren in den Arbeitsmarkt eintreten und somit von den Veränderungen natürlich weniger betroffen sind. Die Koppelung des Rentenbeginns an Beitragsjahre – wer 43 Jahre „geklebt“ hat, kann mit 58 das Arbeitsleben abschließen – ist kommunikativ nicht durchgedrungen.
Machtprobe der Gewerkschaften
Zwei Begriffe prägen die Diskussion, „souffrance au travail“/ das Leiden an der Arbeit und „von der Rente profitieren können“. Anscheinend haben viele das Gefühl, langes Arbeiten sei mit Leiden verbunden. Der meistgehörte Satz lautet: „Ich will so früh wie irgend möglich in Rente gehen, um von ihr zu profitieren.“ Berufsanfänger*innen geben im Einstellungsgespräch an, unter gar keinen Umständen bis 60 arbeiten zu wollen.
Die Rente als soziale Leistung, ein Anrecht, ja ein Menschenrecht. Und jedes Jahr weniger mindert diese Leistung und verkürzt das gute Leben. Die Lebenserwartung in Frankreich gehört übrigens im Vergleich der OECD-Länder zu den höchsten. Woher das Geld dafür stammt, wird schlicht nicht diskutiert.
Die Gewerkschaften begreifen die Auseinandersetzung um die Rentenreform als Machtprobe mit Präsident Macron. Mit weit über einer Million Teilnehmer*innen landesweit haben sie zum Auftakt der Streik- und Demonstrationswochen ein Ausrufezeichen gesetzt.