Im Nordwesten Pakistans hat die Armee eine Offensive gegen die Taliban begonnen. Im Swat-Tal mit seiner Hauptstadt Mingora und in den Distrikten Dir und Buner wurden Stellungen der islamistischen Extremisten angegriffen. Das pakistanische Militär wandte eine Doppelstrategie aus Luftangriffen und Bodentruppen gegen die Guerillastrategie der Taliban an. Im Distrikt Shangla wurde ein Ausbildungslager, im Swat-Tal das Hauptquartier der Taliban zerstört. Die Hauptstadt Mingora liegt jedoch noch immer zu weiten Teilen in den Händen der Taliban, die Gefechte gehen weiter. "Die Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan hat Pakistan nie kontrolliert," so der Asien-Experte Christian Wagner von der Stiftung Wissenschaft und Politik, "das Land steht zum ersten Mal vor der Herausforderung, eine territoriale Oberhoheit in diesen Gebieten zu etablieren."
Mehr Engagement von Pakistan gefordert
Die pakistanische Regierung von Präsident Asif Ali Zardari verkündete, Extremisten und Terroristen ein für alle mal eliminieren zu wollen. Anfang des Monats war sie in Washington mit Präsident
Barack Obama und Afghanistans Staatschef Harmid Karzai zu einem Krisengespräch zusammengekommen. Dabei betonte der amerikanische Präsident sein intensiviertes Vorgehen gegen die Aufständischen in
Afghanistan und forderte auch von Pakistan ein stärkeres Engagement. "Von pakistanischer Seite geht man die Aufgabe nun mit einer dreifachen Strategie an: man verhandelt mit militanten Gruppen,
man beschleunigt die wirtschaftliche Entwicklung in der Region und man versucht, gegen die militanten Gruppen, die nicht zu Verhandlungen bereit sind, militärisch vorzugehen," so Experte
Christian Wagner.
Bislang war die pakistanische Regierung nur halbherzig gegen die pakistanischen Taliban vorgegangen. Bis Februar hatte die Armee über eineinhalb Jahre erfolglos gegen etwa 5.000 Taliban
gekämpft, schließlich ließ sie sich auf einen umstrittenen Friedensvertrag ein. Gegen den Abzug der Armee und die Einführung der Scharia versprachen die Taliban, sich entwaffnen zu lassen. Doch
hielten sie sich nicht an die Vereinbarung, statt dessen begannen sie, die Straßen von Mingora zu patroullieren und die umliegenden Distrikte unter ihre Kontrolle zu bringen. Das gesamte Swat-Tal
wurde vermint und auch außerhalb der Stammesgebiete marschierten die Taliban auf und konnten mit der Unterwerfung des Buner-Tals schließlich bis zu 100 Kilometer vor die Hauptstadt Islamabad
vorrücken.
Mehrheit des Landes befürwortet Einsatz
In ganz Pakistan aber auch der westlichen Welt schrillten die Alarmsirenen, denn Pakistan verfügt über Nuklearwaffen, die in die Hände der Taliban fallen könnten. Zudem spielt das Land eine
zentrale Rolle bei der Stabilisierung Afghanistans. Noch während der Konferenz in Washington begann Präsident Asif Ali Zardari also eine neue Offensive im Swat-Tal. Zwar ist die pakistanische
Armee nicht auf einen Guerillaeinsatz gegen Aufständische vorbereitet, jedoch verfügt sie über moderne Streitkräfte. Wurden die Taliban anfangs nicht als Gefahr für den Staat angesehen, scheint
sich nun ein Meinungsumschwung eingestellt zu haben. Das Scheitern des Abkommens im Swat-Tal hat deutlich gemacht, dass ein Einvernehmen mit den Taliban nicht von langer Dauer ist, die
Aufständischen kein Interesse an einem Frieden haben und so lange nicht Ruhe geben werden, bis auch die Hauptstadt Islamabad talibanisiert sei. "Die Politik des Dialogs und der sogenannten
Friedensverträge mit den Taliban war ein Fehler. Zum ersten Mal scheint Pakistan die Lage nun richtig einzuschätzen," so Zeeshan Bhutta und Yousaf Rafia in der Daily Nation, einer der
wichtigsten Tageszeitungen des Landes, "und zum ersten Mal steht die Mehrheit des Landes hinter dem Einsatz. Selbst die religiösen Gruppen des Landes haben sich entschieden gegen die Taliban
ausgesprochen."
Zehn Tage nach Anfang der Offensive vermeldet die Armee, bereits eintausend Aufständische getötet zu haben. Jedoch neigt sie dazu, ihre Erfolge zu übertreiben. Unabhängige Informationen aus
dem Swat-Tal gibt es nicht. Zu Opfern unter der Zivilbevölkerung machte die Regierung keine Angaben, denn jedes zivile Opfer heizt die Stimmung gegen die Regierung in Islamabad und ihre
Verbündeten in Washington an. Die pakistanische Öffentlichkeit reagierte bislang stets mit einem Aufschrei, erstmals gibt sie sich jedoch überraschend zurückhaltend. Laut International Republican
Institute sehen 69 Prozent der pakistanischen Bevölkerung in den Taliban und al-Quaida "ein ernsthaftes Problem," genau 45 Prozent befürworten den Einsatz der Armee. Die Taliban sind von dem
Strategiewechsel Pakistans überrascht worden und nun erst einmal in der Defensive. Sie endgültig zu besiegen, wird jedoch noch viele Monate dauern.
Flucht aus den Kampfgebieten
Unterdessen haben sich Hunderttausende Menschen auf die Flucht aus den Kampfgebieten gemacht. Das
Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) sprach von 360.000 Neuankömmlingen in Flüchtlingslagern am Rande der Kampfgebiete seit
Anfang Mai. Rund ein Fünftel der Menschen geht in Camps, die meisten versuchen erst einmal bei Verwandten unterzukommen. Insgesamt sei eine halbe Million Menschen aus den Distrikten Buner, Dir
und Swat unterwegs. "Die Lage ist sehr angespannt und kann sich noch verschlechtern," so John Holmes, Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen, "alle humanitären Organisationen versuchen
derzeit, ihr Engagement zu verstärken und ihre Präsenz vor Ort zu erhöhen."
"Die wichtigste Frage lautet, wie lange die Armee ihren Einsatz aufrecht erhalten wird - und kann," so US-Militärexperte Mike Mullen, "bislang hatte sie keinen langen Atmen." Sinnvoll wäre,
die afghanischen Taliban mit Bodentruppen über die Grenze hinweg auch in Pakistan verfolgen zu können. Doch Washington fürchtet, damit die Regierung in Islamabad zu schwächen. Die Atomwaffen
Pakistans lagern außerhalb des unmittelbaren Zugriffs der Taliban. Die Lagerung wird von der Armee professionell gehandhabt, die Vereinigten Staaten von Amerika überwachen das pakistanische
Nukleararsenal - wenn auch in letzter Zeit immer lückenhafter.
Am 17. Juni soll ein EU-Pakistan-Gipfel stattfinden, die EU-Ratspräsidentschaft verkündete eine Unterstützung auf höchster Ebene. Und auch der pakistanische Innenminister versprach, die
Militäraktion im Swat-Tal werde fortgesetzt, bis der letzte Talib vertrieben sein. Während dessen muss vor allem den Flüchtlingen geholfen und auf die Zivilbevölkerung in den umkämpften Gebieten
geachtet werden. Jedes zivile Opfer ist nicht nur eines zuviel, es bedeutet auch jedes Mal mehr Zulauf für die Taliban und mehr Stimmung gegen ein entschiedenes Vorgehen gegen Extremismus und
Terrorismus.
Flüchtlingskrise in Pakistan: UNHCR vor Ort
In Pakistan bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Die Kämpfe zwischen der pakistanischen Armee und den radikal-islamischen Taliban im Nordwesten des Landes zwingen immer mehr Menschen zur Flucht. Um dem Zustrom der Vertriebenen gerecht werden zu können, hat UNHCR in den letzten Tagen drei neue Flüchtlingslager errichtet. UNHCR-Experten beurteilen ferner die Beschaffenheit von Land, das die Regierung für weitere Lager zur Verfügung gestellt hat.
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arbeitet als freier Autor mit Schwerpunkt Afrika, Lateinamerika und Naher Osten.