SPD-Fraktionsvize: Blockaden in der Russland-Politik aufbrechen
Rolf Mützenich, Sie fordern neue Initiativen in der Russland-Politik. Was genau wünschen Sie sich?
Wir sollten mit neuen Initiativen und Formaten dazu beitragen, Blockaden aufzubrechen und aus Sackgassen rauszukommen. Die gegenseitigen Beschuldigungen von „Kalten Kriegern“ und „Russland-Nostalgikern“ helfen nicht weiter. In unseren Beziehungen zu Russland müssen wir versuchen, wieder neu zu denken und zugleich die Erfahrungen des Kalten Krieges mit einbeziehen. Warum nimmt man Moskau nicht beim Wort und bietet ihm neue Beziehungen und Kontakte zu den von ihm mit initiierten und dominierten Institutionen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) und der Organisation für den Vertrag über kollektive Sicherheit (OVKS) an? Dies hätte zum einen den Vorteil, dass die Interessenkonflikte „regionalisiert“ würden und sich nicht nur Russland und „der Westen“ gegenüberstünden, sondern die EU und die EAWU (Russland, Belarus, Kasachstan, Armenien und Kirgistan) und – unter dem Dach der OSZE – die NATO und die OVKS (Armenien, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Belarus und Russland). Zum anderen käme man damit dem russischen Bedürfnis nach „Augenhöhe“ entgegen.
Die Kritik in Europa und den USA wächst, dass die Politik Russlands gegenüber dem Westen immer feindseliger werde. Teilen Sie diese Analyse?
Russlands außenpolitisches Vorgehen ist in den letzten Jahren ohne Zweifel konfrontativ und zum Teil aggressiv gewesen. Der russische Staat hat das Völkerrecht gebrochen, führt in der Ostukraine und in Syrien Krieg, versucht die EU und die westlichen Demokratien zu destabilisieren und ist womöglich sogar Schuld an der Wahl Donald Trumps. Es wird nicht besser dadurch, dass auch andere Staaten Völkerrecht gebrochen haben und mehr und mehr auf das Recht des Stärkeren setzen. Entscheidend sind die Fragen: Was folgt daraus und wie geht man mit dieser hochexplosiven und schwierigen Ausgangslage um? Gießt man weiter Öl ins Feuer oder versucht man, die Spirale der gegenseitigen Beschuldigungen, Vorhaltungen und Denkverbote zu überwinden?
Viele Sozialdemokraten berufen sich in der Russland-Politik auf die Ostpolitik Willy Brandts. Diese Politik war Vertragspolitik, ihr wesentlicher Inhalt war der Verzicht auf die Androhung und Anwendung von Gewalt. Wie realistisch ist dieser Ansatz gegenüber Wladimir Putin, der militärische Invasionen in Nachbarländer befiehlt und dort Territorien annektiert bzw. kontrolliert?
Auch wenn sich die Entspannungspolitik der 1960er und 1970er Jahre nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen lässt, brauchen wir genau die Art von visionärem Pragmatismus, die deren Erfolg ausmachte. Eine Politik, die von der Akzeptanz und einer schonungslosen Analyse des Status quo ausgeht und versucht, diesen mit einer pragmatischen Politik der kleinen Schritte zu überwinden. Die von Egon Bahr konzipierte und von Willy Brandt umgesetzte Ost- und Entspannungspolitik war genau dies: eine Politik der kleinen Schritte, die allerdings von Beginn an zum Teil heftig als blauäugig und realitätsfern kritisiert wurde. Sie begann mit dem Berliner Passierscheinabkommen und endete mit der Charta von Paris und dem Ende der europäischen Teilung. Und sie wäre ohne eine konsequente Haltung und Akzeptanz durch den Westen nicht möglich gewesen. Der Harmel-Bericht der NATO brachte beide Seiten auf den Punkt: Statt eines kompromisslosen "Entweder - Oder" zwischen Abschreckung und Entspannung definierte dieser eine "Doppelstrategie" von militärischen Fähigkeiten und einer "Politik der ausgestreckten Hand", die sich als visionär erwies. Wir brauchen – heute wie damals – eine ideologiefreie Durchbrechung von Blockaden und Denkverboten bei schonungsloser Benennung der Gegensätze.
Geht der Hinweis auf Brandts Ostpolitik nicht von falschen Voraussetzungen aus? Oder anders gefragt: Wäre in den 1960er und 70er Jahren eine Entspannungspolitik mit Moskau überhaupt vorstellbar gewesen, wenn Breschnew zeitgleich militärisch in Nachbarländer der UdSSR einmarschiert wäre und dort Territorien annektiert hätte?
Nein. Mir ist klar, dass die Voraussetzungen heute ganz andere sind. Damals war die Sowjetunion unter Breschnew eine Status quo-Macht, der es vor allem darum ging, das Erreichte und Zusammeneroberte zu arrondieren. Im Übrigen ist auch die Sowjetunion – sowohl vor, als auch während Breschnews Amtszeit – sehr wohl in Nachbarländer einmarschiert. 1953 in die DDR, 1956 in Ungarn, 1968 in die Tschechoslowakei und 1979 in Afghanistan. Die sogenannte „Breschnew-Doktrin“ ging explizit von der sogenannten „beschränkten Souveränität“ der sozialistischen Staaten aus und leitete daraus das Recht ab, politisch, wirtschaftlich und auch militärisch einzugreifen, wann immer in einem dieser Staaten der Sozialismus bedroht würde. Und die Entscheidung darüber, ob der Sozialismus „bedroht“ sei – ob also eine entsprechende Eingriffsvoraussetzung vorliege – lag allein bei der sowjetischen Führung.
Sie sagen, „in Russland scheint derzeit die Einsicht zu wachsen, dass eine enge Partnerschaft mit der EU für die eigene Modernisierung notwendig ist“. Woran machen Sie diese Einsicht konkret fest?
Das Problem der technologischen Rückständigkeit Russlands ist in den vergangenen Jahren nicht kleiner, sondern größer geworden. Für die russische Abhängigkeit vom Öl- und Gaspreis gilt dasselbe. Nach zwei Jahren Rezession infolge niedriger Energiepreise erwartet Russland nur ein geringes Wachstum und selbst die Prognosen der Regierung sehen langfristig kein Ende der Stagnation.
Der Westen braucht Russland zur Lösung der Konflikte in der Ukraine, in Syrien und um das iranische Atomprogramm. Dies gilt aber auch umgekehrt. Die Konfrontation mit dem Westen war für Putin auch ein wichtiger Hebel, um das eigene Volk bei sinkendem Lebensstandard hinter seinem „Führer“ zu einen. Durch außenpolitische „Abenteuer“ kann man vielleicht kurzfristig von innenpolitischen Problemen ablenken, gelöst wird dadurch kein einziges. Die außenpolitische Eskalation der vergangenen Jahre ist deshalb meines Erachtens kein Zeichen von Stärke, sondern von Schwäche. Das wird auch in Gesprächen deutlich und ich bin gespannt, mit welcher Regierungsmannschaft und welchen Beratern Putin demnächst die Politik Russland entwickeln will.
Wie kann eine Partnerschaft der EU mit Russland aussehen, wenn der Kreml zugleich versucht, Europa zu spalten und damit die Handlungsfähigkeit der EU zu torpedieren?
Von einer Partnerschaft sind wir derzeit weit entfernt. Wir müssen im Grunde in vielen Bereichen wieder von vorne anfangen und zugleich die Zusammenarbeit auch mit einem zunehmend autoritären Russland suchen. Ich sehe vor allem im Bereich der Rüstungskontrolle und Vertrauensbildung Gemeinsamkeiten, an die man anknüpfen könnte.
Im Ukraine-Konflikt gibt es eine Debatte, ob die Sanktionen gegen Russland erst dann abgebaut werden sollen, wenn Russland alle Verpflichtungen aus dem Minsker Abkommen erfüllt hat oder ob sie auch bei Teilerfüllung Schritt für Schritt abgebaut werden sollen. Was ist Ihre Position?
Eine vollständige Aufhebung der Sanktionen kann es erst dann geben, wenn Russland das Abkommen von Minsk umgesetzt hat. Hier sind im Übrigen auch die Verantwortlichen in der Ukraine nach wie vor in der Pflicht. Es führt aber auch kein Weg daran vorbei, dass wir Russland brauchen und es deshalb notwendig ist, auch gemeinsame Interessen zu definieren. Dies muss zusammen mit unseren europäischen Partnern – und nicht über deren Köpfe hinweg – geschehen.