SPD-Entwicklungsexperte: Wie Fluchtursachen wirksam bekämpft werden können
2015 wurde in zahlreichen politischen Reden die Notwendigkeit betont, Fluchtursachen zu bekämpfen. Was hat sich in dem Bereich seitdem getan?
Die Flüchtlingslager sind nicht so unterfinanziert wie in 2015, auch wenn die Zustände mancherorts wie in Griechenland teilweise unerträglich sind. Die Lage dort unter Kontrolle zu bringen fällt aber eher in den Bereich humanitäre Hilfe. Als Entwicklungspolitiker bin ich zuständig für strukturelle Fluchtursachenbekämpfung.
Also eher die Bekämpfung der Ursachen statt der Behandlung der Symptome.
Genau. Da gilt zunächst einmal: Von den 70 Millionen Flüchtlingen weltweit sind zwei Drittel Binnenflüchtlinge. 85 Prozent leben in Entwicklungsländern. Das kann man in Deutschland und Europa nicht genug betonen. Was wir jetzt auf Lesbos wahrnehmen, ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt einer Problematik, die in anderen Teilen der Welt noch viel schlimmer ist. Dort gibt es die Situation seit Jahrzehnten. In manchen Flüchtlingslagern leben die Leute in zweiter Generation.
Was kann man dort tun?
Wir müssen in diesen Ländern dafür sorgen, dass die Menschen dort eine Perspektive haben. Deutschland hat zuletzt vier Jahre hintereinander jeweils eine Milliarde mehr für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit ausgegeben. Das gab es vorher noch nie. Das Entwicklungsministerium hat zudem eine Sonderinitiative zur Fluchtursachenbekämpfung gestartet. Ich bin allerdings der Auffassung, dass alles, was wir im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit machen, von Bildung über Rechtsstaatlichkeit bis hin zur Förderung der Zivilgesellschaft, eigentlich zur Fluchtursachenbekämpfung gehört. Ich persönlich entscheide in meinem entwicklungspolitischen Engagement aber nicht danach, ob ein Land besonders große Fluchtbewegungen hat, sondern ich gehe danach, wo Armut und Bedürftigkeit herrschen. Das führt dann insgesamt dazu, dass wir weniger Konflikte und Kriege, mehr Stabilität in der Region und weniger Fluchtursachen haben. Kurz gesagt: Wenn die Eltern das Gefühl haben, dass ihre Kinder in dem Land, in dem sie sie zur Welt gebracht und groß ziehen, es mal besser haben als sie selbst, dann bleiben sie auch dort.
Welche Bereiche spielen bei der Fluchtursachenbekämpfung außerdem mit rein?
Es ist wichtig, faire und gerechte Handelsbeziehungen zu schaffen. Denn es nützt nichts, wenn wir mit Entwicklungszusammenarbeit zum Beispiel die landwirtschaftliche Produktion stärken und am Ende mit unserer Handelspolitik alles wieder einreißen. Deswegen ist eine gerechte Gestaltung der Globalisierung genauso wichtig, um Fluchtursachen zu vermindern. Wir dürfen Afrika nicht nur als billigen Rohstofflieferanten sehen. Genauso darf das MERCOSUR-Abkommen mit Brasilien in der jetzigen Fassung nicht abgeschlossen werden, wenn es bedeutet, dass der Regenwald dadurch verstärkt abgeholzt wird und Indigene vertrieben werden.
Welche Rolle spielen die Sustainable Development Goals (SDG) für die Entwicklungspolitik?
Sie sind eine sehr wichtige Zielsetzung, an die sich auch alle Ressorts in der Bundesregierung halten müssen. Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung hat Kanzlerin Merkel bei den UN für Deutschland unterschrieben. Um sie zu erreichen, sollten die Industrieländer auch ihr Versprechen erfüllen, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung zu stellen. Wenn wir bis 2030 Hunger und extreme Armut ausrotten wollen, werden wir noch einiges an Unterstützung für die Entwicklungsländer brauchen.
Der SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans hat in seiner Antrittsrede auf dem Parteitag im Dezember gefordert, lieber zwei Prozent für Entwicklungszusammenarbeit und 0,7 Prozent für Rüstungspolitik auszugeben. Bisher ist die Zielsetzung umgekehrt. Stimmen Sie ihm zu?
Ja, das hat mir sehr gut gefallen. Deswegen setze ich große Hoffnungen in Norbert und Saskia Esken. Auch Saskia hat eine große Sympathie für faire Handelspolitik und Entwicklungszusammenarbeit. Ich glaube, da habe ich große Unterstützung in der Parteispitze. Jeder Euro, den man mehr für Entwicklungszusammenarbeit ausgibt, verhindert in anderen Regionen Konflikte. Man kann Verteidigungsausgaben langfristig einsparen und Leben von Soldaten retten, wenn man lieber mehr Geld präventiv in Entwicklungszusammenarbeit steckt.
Wie kann man öffentlich noch stärker für das Thema Fluchtursachenbekämpfung sensibilisieren?
Die Leute verstehen, dass es sinnvoll ist, den Menschen vor Ort zu helfen. Das Verständnis für die Entwicklungszusammenarbeit hat sich seit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 erhöht. Auch die Klimaerwärmung können wir nur in den Griff bekommen, wenn wir Entwicklungsländern Zugang zu Erneuerbaren Energien ermöglichen und der wirtschaftliche Aufstieg nicht über den Weg über fossile Brennstoffe erfolgt, so wie ihn Europa vor 50 Jahren gegangen ist. Zudem werden zwei Drittel aller Produkte aus Deutschland ins Ausland exportiert. Es ist auch ein ökonomisches Argument, dass uns nicht egal sein kann, wenn der Rest der Welt verhungert. Denn dann kann keiner unsere Produkte kaufen.
Sie sind 2014 als entwicklungspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion zurückgetreten, aus Protest, weil die GroKo damals nicht genügend Geld für Entwicklungszusammenarbeit vereinbart habe. Jetzt sind Sie wieder im Amt. Wird nun genug Geld ausgegeben?
Ja, das war für mich ein ganz entscheidender Punkt. Die bisherige Sprecherin hat aus gesundheitlichen Gründen aufgehört und ich wurde gebeten, wieder Verantwortung für diesen Bereich zu übernehmen. In den vergangenen Jahren habe ich sehr erfolgreich dafür gekämpft, dass wir Rekordausgaben für Entwicklungszusammenarbeit haben. Deswegen habe ich die Sprecher-Position sehr gerne wieder übernommen.
ist Redakteur des „vorwärts“. Er hat Politikwissenschaft studiert und twittert gelegentlich unter @JonasJjo