Sozialkreditsystem: China bewertet seine Bürger wie eine Rating-Agentur
Stellen Sie sich vor: Ein Vater will seinen Sohn an einer Uni einschreiben, doch der Staat gibt keine Erlaubnis. Eine Frau bewirbt sich für einen Job, für den sie mehr als qualifiziert ist, die Absage kommt prompt. Und einem Arbeiter wird kurzerhand der verdiente Jahresendbonus verweigert.
Bürger sollen kontrolliert werden
Diesen drei Menschen klebt nicht das Pech an den Stiefeln, vielmehr erschwert ihnen ein schlechter Punktestand das Leben. Berechnet wird er für jeden Bürger aus einer Datenbank, in der Details über das gesamte Leben gespeichert sind. Offenbar haben sich die Drei nicht entsprechend den geltenden sozialen Regeln verhalten, was zu der miesen Beurteilung geführt hat. Die Folgen bekommen sie nun zu spüren.
Diese drei Beispiele sind fiktiv, das Schreckensszenario ist in China allerdings in greifbare Nähe gerückt. In 40 Modellzonen wird erprobt, was die Regierung im Jahr 2020 für alle knapp 1,4 Milliarden Chinesen einführen könnte: ein Sozialpunktesystem, das das Verhalten der Bürger bewertet. Damit wollen die Behörden die Menschen laut eigener Aussage zu einer guten Lebensweise anhalten. Es gibt auch andere Sichtweisen: „Die Kontrolle der Bürger steht ganz offensichtlich im Vordergrund“, sagt China-Experte Bernhard Bartsch von der Bertelsmann-Stiftung.
Von AAA bis D
Das Sozialpunktesystem funktioniert laut Berichten wie eine Ratingagentur. Jeder Mensch erhält ein Punktekonto, aus dessen Stand eine Note resultiert. Die beste Bewertung lautet AAA, die schlechteste hingegen D. Unter die Lupe genommen wird, wie sich die Bürger im Internet aber auch im realen Leben verhalten. Wer nicht den staatlichen Vorgaben entspricht, wird bestraft.
In den Regionen Chinas, in denen das System zurzeit erprobt wird, sind Listen einsehbar, in denen laut Bernhard Bartsch festgehalten ist, was als gutes und was als schlechtes Verhalten anzusehen ist. Wer es etwa mit der Zahlungsmoral nicht so genau nimmt oder bei Rot über die Ampel fährt, erhalte Minuspunkte. Den Punktestand verbessern könne man hingegen mit Schneeschippen oder mit dem Singen von patriotischen Liedern.
Gläserner Bürger
Wer viele Extrapunkte ansammelt, erhalte beispielsweise Vergünstigungen beim Einkaufen. In der Zukunft könnten die Belohnungen laut Berichten wesentlich gewichtiger sein. Im Gegenzug für eine hohe Punktezahl soll es vergünstige Kredite oder eine bessere Krankenversicherung geben, aber auch Vorteile bei der Vergabe von Studienplätzen. Bei einem schlechten Punktestand könnte hingegen der Verlust des Jobs drohen.
Nach Angaben von China-Experte Bartsch hat das Sozialpunktesystem – abgesehen von dem bürokratischen Aufwand – gegenwärtig noch keine großen Auswirkungen auf den Alltag der Menschen. Dafür sei es noch nicht lang genug zum Einsatz. Deswegen gebe es bislang auch keine Fälle, in denen Menschen einen extrem niedrigen Punktestand haben. Das Bewertungssystem mache einen eher harmlosen Eindruck.
Panik ausgelöst
Bernhard Bartsch erwartet, dass die chinesische Regierung die Zügel in der Zukunft anziehen werde. In dem Land sei die Kontrolle der Gesellschaft bereits jetzt so gut wie vollkommen. „Mit dem System lassen sich die Bürger endgültig in einer einzigen Datenbank zusammenfassen“, sagt er. Die dann völlig gläsern gewordenen Menschen könnten sich vor nichts mehr verstecken. Noch ist es nicht so weit, aber: „Wirklich brisant wird es in dem Moment, sobald die Menschen bemerken, dass das System Nachteile für sie hat.“
Gegenwärtig durchleuchtet die chinesische Regierung schon die gesamte Bevölkerung, in dem sie heimlich Massen an Informationen sammelt. Telekommunikationsfirmen sind laut Bartsch verpflichtet, alle gespeicherten Daten weiterzugeben. Betroffen seien auch Chinas große Internetfirmen Alibaba und Tencent, deren digitale Angebote in dem Land allgegenwärtig sind. Viele Chinesen nutzten deren Dienste, um zu chatten, um sich via Gesichtserkennung zu identifizieren oder per Smartphone zu bezahlen. Dabei fallen Spuren an: Zahlungsverhalten, Suchanfragen, Gesprächsprotokolle, Stimm- und Bewegungsmuster.
Überwachungswahn
Welche Informationen die chinesische Führung tatsächlich einsammelt, ist schwierig nachzuvollziehen. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Daten auch aus anderen Bereichen erfasst und zusammengelegt werden“, sagt Bartsch. Er geht davon aus, dass bereits jetzt beispielsweise auch die Meldebehörden alle Datensätze weiterreichen. Der China-Experte schätzt, dass derzeit mehrere Millionen Chinesen in den staatlichen Datenbanken erfasst sind. Diese Informationen dürften Berichten zufolge mit dem geplanten Sozialpunktesystem kombiniert werden.
Den Überwachungswahn der chinesischen Führung hat seinen Ursprung im Jahr 2011. Inspiriert von der Jasminrevolution in Tunesien, kam es auch in China zu Protesten gegen die Regierung. Das Internet spielte dabei eine maßgebliche Rolle. Dies habe „Panik“ bei der Regierung ausgelöst, so Bernhard Bartsch. Seitdem versuche sie, das Internet und die Gesellschaft unter Kontrolle zu bringen. „Das Sozialpunktesystem ist die extremste Form dieses Ziels.“