So will Olaf Scholz die EU „weltpolitikfähig“ machen
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„Wie souverän ist Europa?“ Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte ihre diesjährige Tiergartenkonferenz am Mittwoch „unter eine provokante Frage gestellt“, wie Olaf Scholz gleich zu Beginn seiner Grundsatzrede feststellt. „Es ist wichtig, diese Frage in diesem Wahljahr zu stellen“, so der SPD-Kanzlerkandidat. Wenn nun „ein Kanzlerkandidat einer anderen großen Volkspartei“ behaupte, Europa müsse keine große Rolle im Bundestagswahlkampf spielen, da man sowieso einer Meinung sei, „dann sage ich: Das ist wohl nicht so!“
Für Scholz ist klar: „Die Antwort auf die Frage, wie souverän Europa ist, kann heute nicht zufriedenstellend ausfallen.“ Die EU habe große Erfolge bei der Befriedigung innereuropäischer Konflikte erreicht. Europa sei „ein einzigartiges Friedens- und Wohlstandsprojekt“, so der Vizekanzler. „Aber das wird es nur bleiben, wenn wir nicht beim Beschwören dieser Erfolge stehen bleiben.“
Olaf Scholz: Europas Blick nach außen richten
Man müsse wegkommen, von der ausschließlichen Fixierung auf den Binnenmarkt. „Niemand verliebt sich in einen Binnenmarkt“, zitiert Scholz den früheren Kommissionspräsidenten Jacques Delors. „Das Europa, das mit dem Blick nach innen gegründet wurde, muss erwachsen werden und nach außen bestehen“, fordert der Kanzlerkandidat. Erst recht, wenn man bedenke, dass Europa nur noch knapp sechs Prozent der Weltbevölkerung stelle. „In dieser Welt den ‚european way of life‘ in allen seinen Facetten zu verteidigen und attraktives Vorbild für andere zu sein, das ist heute die Aufgabe von Europa.“ Europa werde nur bestehen, „wenn es sich hierzu selbst befähigt“.
Dazu gehört für Olaf Scholz eine gemeinsame europäische Außenpolitik, die rasch vom Einstimmigkeitsprinzip zum Mehrheitsprinzip übergehe. Wie dringend nötig das sei, zeigt der Vizekanzler an einem aktuellen Beispiel, „als der EU-Außenbeauftragte daran gehindert wurde, für Europa mit einer Stimme zum wieder aufgeflammten Nahost-Konflikt zu sprechen“. 26 Mitgliedstaaten hätten sich auf eine Position geeinigt, ein Mitgliedstaat (Ungarn, die Red.) habe mit seinem Veto eine gemeinsame Erklärung verhindert. „In der Welt des 21. Jahrhunderts ist der Übergang zu Mehrheitsentscheidungen ein Gewinn an Souveränität“, betont der SPD-Kanzlerkandidat. Es gebe nicht mehr die Wahl zwischen Mehrheitsentscheidung und nationaler Souveränität: „Die Wahl ist zwischen Mehrheitsentscheidung und weltpolitischer Bedeutungslosigkeit.“
EU muss in ihrer Nachbarschaft Stabilität schaffen
Europa müsse „weltpolitikfähig“ werden, fordert Scholz. Allerdings gelte auch: „Wir können uns jede Debatte über Europas Weltpolitikfähigkeit sparen, wenn wir es nicht schaffen, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft für Stabilität zu sorgen.“ Die Ukraine sei dafür ein lehrreiches Beispiel. Es sei ein sozialdemokratischer Außenminister (Frank-Walter Steinmeier, die Red.) gewesen, der im Jahr 2014 zusammen mit seinem polnischen und französischen Kollegen einen Waffenstillstand auf dem Maidan in Kiew verhandelt habe.
Deutschland habe „nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim durch Russland“ auf das Normandie-Format gedrängt, um im Gespräch zwischen Berlin, Paris, Kiew und Moskau „eine weitere Eskalation zu verhindern“. Die Ukraine werde „auf ihrem demokratischen und europäischen Weg“ auf vielfältige Weise unterstützt. Kanzlerkandidat Scholz „sieht mit Sorge“, dass in Deutschland beim Thema Ukraine „die schnelle Schlagzeile gesucht wird, der einfache Applaus im Inland“. Damit würden nicht nur die Erfolge deutscher Außenpolitik der letzten Jahrzehnte auf’s Spiel gesetzt, so spiele man auch den Scharfmacher*innen in die Hände.
„Die gemeinsame europäische Stärke“ sei nötig in der Außenpolitik. Das zeige ganz aktuell das Beispiel Belarus und die Entführung eines EU-Flugzeugs nach Minsk. „Dieser Akt der Piraterie“ sei ein „außerordentlich schlimmer Vorgang“, er könne nur gemeinsam und damit besser und wirksamer beantwortet werden. Die EU habe hier präzise und schnell geantwortet.
Sich nicht vor eigener Stärke fürchten
Klar sei: „Wenn man andere schützen will, muss man sich selber schützen können.“ Das gelte auch für die EU. „Nur wenn wir selber stark sind, können wir auch für eine friedliche Welt sorgen“, betont Scholz. Man könne für Multilateralismus in der Welt nur aktiv sein, wenn man dazu auch die nötige Kraft habe und gehört werde. „Man darf sich also vor Stärke nicht fürchten, weil nicht Schwäche die Grundlage für eine Welt gemeinsamer Sicherheit ist, sondern auch eigene Stärke.“
Olaf Scholz zeigt sich bei allen aktuellen Problemen und Schwierigkeiten zuversichtlich: „Gemeinsam hat Europa die notwendige Kraft, dass europäische Standards Maßstäbe setzen für globale Standards.“ Etwa in der Umwelt- und Sozialpolitik oder bei den Lieferketten. „Dann gehören wir auch zu denen, die die Globalisierung mitgestalten.“
Es macht für Europa einen Unterschied, wer regiert
Leider sei Europas Souveränität noch „viel zu oft ein Schlagwort“. Dabei sei das Projekt europäischer Souveränität „das große Ziel“. Scholz macht deutlich: „Europa von seinem nach innen gerichteten Blick nun nach außen zu wenden, und weltpolitikfähig zu machen, dafür braucht es mehr als Sonntagsreden. Dafür braucht es politischen Mut und Führungsstärke.“ Die EU habe im vergangenen Jahr mit dem großen Corona-Wiederaufbauprogramm und den gemeinsam aufgenommenen Krediten bewiesen, dass das gehe. „Wir haben in dieser Krise gezeigt, dass es für Europa einen Unterschied macht, wer regiert“, so der SPD-Kanzlerkandidat. „Bleiben wir mutig!“