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So will Erdoğan seine gefährlichste Gegnerin zum Schweigen bringen

Die Vorsitzende der größten türkischen Oppositionspartei CHP in Istanbul Canan Kaftancıoğlu muss fast fünf Jahre ins Gefängnis. Das politisch motivierte Urteil zeigt, mit welch massiver Unterdrückung Erdoğan den nächsten Wahlkampf führen will.
von Kristina Karasu · 13. Mai 2022
Eine Ausnahmefigur der türkischen Politik: Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der republikanischen Volkspartei CHP in Istanbul.
Eine Ausnahmefigur der türkischen Politik: Canan Kaftancıoğlu, die Vorsitzende der republikanischen Volkspartei CHP in Istanbul.

Eine neue Welle von Gerichtsurteilen gegen Regierungsgegner*innen rollt derzeit über die Türkei hinweg. Ende April wurde der Kulturmäzen Osman Kavala zu lebenslänglich und acht Hauptakteure der Gezi-Proteste zu jeweils 18 Jahren Haft verurteilt. Nun trifft es Canan Kaftancıoğlu, die bekannte Istanbul-Vorsitzender der republikanischen Volkspartei CHP, Schwesterpartei der SPD.

Kaftancıoğlu managte den Sieg der Opposition in Istanbul

Kaftancıoğlu ist eine Ausnahmefigur der türkischen Politik: Als Ärztin forschte sie über Folterfälle, setzte sich immer wieder für Kurd*innen und Linke ein, nennt den Völkermord an den Armeniern beim Namen und scheut es nicht, Erdoğan mit scharfen Worten entgegenzutreten. Sie fehlt bei keinem Prozess gegen Regierungsgegner*innen, gilt als ausgesprochen fleißig und fährt in ihrer Freizeit Motorrad. Während viele liberal gesinnte Türk*innen, Feminist*innen und LGBT-Aktivist*innen Kaftancıoğlu verehren, wird sie von regierungsnahen Medien immer wieder zur Islamfeindin und PKK-Sympathisantin stilisiert.

Der Hauptgrund dafür: Sie gilt als maßgebliche Strategin hinter dem Wahlsieg der Opposition bei den Istanbuler Kommunalwahlen 2019 und bescherte Erdoğan damit die bisher größte Niederlage seiner Regierungszeit. Dafür will der Präsident sie offensichtlich bestrafen, kommentiert das Nachrichtenportal T24.

Verurteilt wegen Präsidentenbeleidigung

Wegen Tweets aus dem Jahren 2012 bis 2017 wurde Kaftancıoğlu nun zu vier Jahren und elf Monaten Haft verurteilt – das bestätigte am Donnerstag ein türkisches Berufungsgericht. Vorgeworfen wird ihr unter anderem Präsidentenbeleidigung und „Verunglimpfung des türkischen Staates“. Von früheren Vorwürfen der Terrorpropaganda wurde sie hingegen freigesprochen.

Ob und wie lange Kaftancıoğlu die Haftstrafe antreten muss, ist noch unklar; möglicherweise muss sie nur ein paar Tage ins Gefängnis. Sicher aber ist, dass sie in den nächsten Jahren das Recht verliert, in ein politisches Amt gewählt zu werden. Möglicherweise droht ihr sogar ein komplettes Politikverbot.

Die Opposition ist empört und wütend

Der Aufschrei in der Türkei ist groß. CHP-Chef Kemal Kılıçdaroğlu reiste am Donnerstag umgehend nach Istanbul, um Kaftancıoğlu beizustehen. Hunderte von Menschen versammelten sich mit ihnen spontan vor der Istanbuler Parteizentrale. Kılıçdaroğlu warf Staatspräsident Erdoğan in scharfen Worte vor, hinter dem Urteil zu stecken und warnte ihn: „Hinter Canan, die man zu bestrafen versucht, steht ein riesiges Volk. Vergiss das keine Sekunde!“ Für den 21. Mai kündigte er eine große CHP-Kundgebung in Istanbul an.

Auch Politiker*innen anderer Oppositionsparteien verurteilten den Gerichtsbeschluss auf das Schärfste. Allen voran die kurdennahe HDP, deren zahlreiche Mitglieder schon seit Jahren in Haft sitzen und mit denen Kaftancıoğlu stets den Dialog suchte.

SPD-Bundestagsfraktion spricht von Skandal

Ebenso entsetzt zeigte die SPD-Bundesfraktion. In einer schriftlichen Erklärung nannte sie das Urteil einen „Skandal“ und erklärte: „Das Urteil belegt einmal mehr wie verheerend es um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei steht. Gerade im Hinblick auf die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen des kommenden Jahres wäre die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze und Verfahren aber von entscheidender Bedeutung.“ Die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) wertete das Urteil als weiteren Beweis dafür, dass in der Türkei das Justizsystem benutzt werde „um sich an der Opposition zu rächen“ und sprach Kaftancıoğlu die volle Unterstützung aus.

Tatsächlich zeigt das Urteil für Kaftancıoğlu ebenso wie die anderen Urteile der vergangenen Wochen, in welcher Atmosphäre die Erdoğan-Regierung das Land in die nächsten Wahlen 2023 führen will. Während die Umfragen angesichts von Hyperinflation und Währungskrise Erdoğan und seine Partei in einem Stimmungstief sehen, erhöht die Regierung den Druck gegen alle, die ihr im Weg stehen könnten. Mit Verhaftungen, Gerichtsprozessen und Hetzkampagnen sollen offenbar nicht nur die Oppositionspolitiker*innen, sondern auch die Wähler*innen eingeschüchtert werden.

Erdoğans Strategie könnte nach hinten losgehen

Dabei weiß Erdoğan eigentlich, dass solche Mittel sehr oft nach hinten losgehen. Er selbst wurde 1999 wegen einem vorgetragenen Gedicht inhaftiert und mit einem Politikverbot belegt. Viele Türk*innen empfanden das als ungerecht; Erdoğan wurde plötzlich zum Opfer und schließlich zum Helden.

Ähnliches geschah bei den Kommunalwahlen 2019: Im ersten Wahlgang gewann CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu nur mit hauchdünnem Vorsprung. Erdoğan ließ daraufhin die Wahlen wiederholen. Im zweiten Durchgang gewann İmamoğlu plötzlich mit einem Vorsprung von über neun Prozent. Erdoğans Partei musste nun eine viel größere Niederlage eingestehen und hatte sich vor dem ganzen Land blamiert.

Eint das Urteil die Opposition?

Ebenso könnte das Urteil gegen Kaftancıoğlu dafür sorgen, dass sich die nur zu oft zerstrittene Opposition wieder eint. Viele in ihrer Partei etwa wissen, dass die CHP durch Kaftancıoğlus kluge Kampagne 2019 zum ersten Mal Stimmen von Menschen erhalten hatte, für die die CHP jahrelang unwählbar war, etwa Kurd*innen oder strenggläubige Muslime.

Eine ebenso kluge Kampagne bräuchte es, um Erdoğan bei den Wahlen 2023 zu besiegen. Kaftancıoğlu betonte gleich nach der Urteil, dass sie weiterarbeiten werde. In einer Videobotschaft auf dem Weg nach Istanbul verkündete sie: „Verlieren Sie niemals die Hoffnung! Wir werden das Böse an der Macht beseitigen, indem wir Hoffnung organisieren.“ Hoffnung ist in diesen Tagen in der Türkei tatsächlich ein rares Gut.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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