So nutzt Erdoğan den gescheiterten Putschversuch in der Türkei
Es ist ein neues Heldenepos, das die türkischen Medien seit Samstag ununterbrochen erzählen: den der mutigen Bürger, die sich den Panzern entgegenstellten, der den Putschversuch von Teilen des türkischen Militärs in der Nacht zum Samstag erfolgreich niederschlugen.
Neue Heldensage der Regierungspartei
Während nach den Bombenattentaten der vergangenen Monate sofort eine Nachrichtensperre verhängt wurden, so wird über den gescheiterten Putschversuch in aller Ausführlichkeit berichtet: wie der oberste Armeechef entführt wurde, Kampfjets auf Passanten in Ankara feuerten, der staatliche Nachrichtensender TRT von Soldaten erstürmt wurde und eine Moderatorin mit versteinertem Gesicht die Erklärung der Putschisten vorlesen musste, sie hätten die Macht im Land übernommen.
Und wie dann Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan per Internet live bei Fernsehsendern anrief und seine Bürger aufforderte, auf die Straßen zu stürmen, um den Putsch zu verhindern. Einige seiner Anhänger taten das tatsächlich – und die Heldenerzählung des erfolgreichen demokratischen Widerstandes ist komplett.
Niemand will eine Militärjunta
Wer in diesen Tagen mit Regierungsanhängern redet, der spürt den Stolz darüber. „Wenn unsere mutigen Bürger nicht gewesen wären, dann hätten wir jetzt eine Militärdiktatur – Gott bewahre!“, erklärt ein Kellner im Istanbuler Stadtteil Karaköy, der die Nacht zum Samstag zitternd vor dem Fernseher im Lokal verbrachte, während über ihm die Kampfjets donnerten und die Fenster von Explosionen in benachbarten Stadtteilen zitterten. Nun wirkt alles wieder normal in Istanbul, der Verkehr rollt wie gewohnt, alle Spuren sind beseitigt – doch wirkliche Normalität wird es in der Türkei auf absehbare Zeit wohl nicht mehr geben.
Auch regierungskritische Bürger sind erleichtert über den gescheiterten Putsch, eine Militärjunta will niemand zurück – die Türkei hat damit 1960,1971 und 1980 die schlechtesten Erfahrungen gemacht. Alle Oppositionsparteien, auch die sozialdemokratische CHP, verurteilten den Putsch sofort aufs Schärfste. Doch zugleich fürchten sie, was nun auf den Putsch folgen wird.
Massenverhaftungen von Richtern und Staatsanwälten
Über 6000 Festnahmen hat es am Wochenende gegeben, davon die Hälfte aus dem Militär, von blutjungen Wehrdienstleistenden bis zu ranghohen Kommandeuren. Aber auch tausende Vertreter der Justiz, gar Richter des Obersten Gerichtshofes wurden festgenommen. Der Premierminister Binali Yıldırım schlug gar die Wiedereinführung der Todesstrafe vor.
Bereits am Samstag wurden über 2700 Richtern entlassen und in der Nacht zum Montag außerdem rund 7850 Polizisten. Dass sie alle in den Putsch verwickelt sein sollen, ist höchst fraglich „denn wenn sie es tatsächlich gewesen wären, wäre dieser Putsch nicht so dilettantisch gescheitert“, gibt Journalist Aydn Engin zu bedenken. Vielmehr scheint es, dass die Regierung die Gunst der Stunde nutzt, Justiz- und Sicherheitsapparat von missliebigem Personal zu bereinigen. Das hat sie schon in den letzten Jahren begonnen, doch ein Tempo wie am Wochenende wäre unter normalen Umständen unvorstellbar gewesen. So nannte Erdoğan den gescheiterten Putschversuch gar unverhohlen ein „Geschenk Gottes“. Ein höchst zynischer Kommentar angesichts 260 Todesopfern – davon 160 Zivilisten und Sicherheitskräften, die sich den Putschisten widersetzten.
Fetullah Gülen im Visier Erdoğans
Erdoğan erklärte die Anhänger des in den USA lebenden islamischen Predigers Fethullah Gülen zu Tätern. Gülen und seine Gemeinde galten jahrelang als engste Verbündete des Erdoğan-Regimes, bis es 2013 zum Zerwürfnis kam. Seither wird Gülen von Erdoğan zum Erzfeind erklärt, seine Gemeinde gar zur Terrororganisation. Sie sollen den Justiz- und Sicherheitsapparat des Landes unterwandert haben, vor allem in den letzten Monaten ließ die Regierung zahlreiche Operationen gegen sie vornehmen.
Möglich, dass dieser Putschversuch ein letztes Aufbäumen der Gülenisten war, eine letzter verzweifelter Versuch, die Macht wiederzuerlangen. Möglich auch, dass sie sich mit anderen frustrierten Gruppen innerhalb des Militärs zusammen taten, um den Aufstand zu proben. Gülen selbst hingegen wies am Wochenende alle Schuld von sich und verurteilte den Putschversuch.
War der Putsch nur inszeniert?
All das gibt den ohnehin populären Verschwörungstheorien in der Türkei mächtig Auftrieb. Das war alles nur inszeniert, um Erdoğan den Weg zu seinem angestrebten Präsidialsystem zu ebnen, raunen Menschen in stillen Ecken der Cafés; Twitter und Facebook laufen heiß. Andere wittern, die Regierung habe schon Stunden vorher von dem Putschversuch erfahren, es aber darauf ankommen lassen – um ihre Gegner ins Messer rennen zu lassen.
Dass Erdoğan und seine Gefolgsleute tatsächlich so ein großes Risiko eingehen würden, um ihre Macht zu sichern, scheint wenig wahrscheinlich. Dass sie die Vorfälle für sich zu nutzen wussten, ist aber unbestritten.
Sozialer Frieden bedroht wie nie
Doch auch wenn Erdoğan aus dem gescheiterten Putschversuch gestärkt hervorgegangen sein mag – sein Land ist es nicht. So haben einige militante Anhänger Erdoğans den Ruf auf die Straße zu gehen als Aufforderung zur Selbstjustiz verstanden. Laut Berichten der oppositionellen Zeitung Cumhuriyet kam es landesweit zu Lynch-Kampagnen, Schulen der Gülen-Bewegung wurden angegriffen, Regierungskritiker und Aleviten attackiert. Der ohnehin fragile soziale Frieden des Landes ist gefährdet wie selten.
Umso wichtiger sind nun die wiederholten Aufrufe von Regierungsvertretern aber auch der Opposition zur Einigkeit. Wenn sie genutzt werden für Versöhnung und Verständnis, statt für Gleichschaltung und weitere Polarisierung missbraucht zu werden, hätte die traumatisierte türkische Gesellschaft enorm gewonnen.
arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.