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So marschiert Präsident Erdoğan Richtung Ein-Mann-Herrschaft

Das türkische Parlament hat für die Aufhebung der Immunität von 138 Abgeordneten gestimmt – vordergründig als Schritt gegen Terror-Unterstützer. Tatsächlich ebnet es den Weg für das von Erdoğan angestrebte Präsidialsystem. Eine fatale Entwicklung, die Kanzlerin Merkel bei ihrem Türkei-Besuch nicht ignorieren darf.
von Kristina Karasu · 23. Mai 2016
Auf dem Weg zur Alleinherrschaft: Präsident Erdoğan (re.) mit seinem neuen Premierminister Binali Yildirim (li.)
Auf dem Weg zur Alleinherrschaft: Präsident Erdoğan (re.) mit seinem neuen Premierminister Binali Yildirim (li.)

Bis zum letzten Moment hatten sie gehofft, sich optimistisch gegeben, eine Stärke demonstriert, die sie schon lange nicht mehr besitzen: Abgeordnete der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP posierten lächelnd, als sie am Freitag im Parlament zur Urne gingen. Doch mit diesem Ergebnis hatten sie nicht gerechnet: eine überwältigende Mehrheit von 376 der 550 Abgeordneten stimmte für eine vorübergehende Verfassungsänderung, durch die 138 Abgeordnete ihre Immunität verlieren. Bei einer Probeabstimmung am Dienstag waren es nur 348 Befürworter gewesen.

Kein Schutz vor Strafverfolgung für Abgeordnete

Mehr als ein Viertel der Abgeordneten genießen nun keinen Schutz vor Strafverfolgung mehr, unter ihnen die Vorsitzenden aller drei Oppositionsparteien. Politische Immunität wird den meisten gewählten Volksvertretern weltweit garantiert, um ihr Recht auf freie Meinungsäußerung sicherzustellen. Dieses Recht ist in der Türkei nun enorm gefährdet.

Von der Aufhebung der Immunität sind besonders Vertreter der pro-kurdischen HDP betroffen, nämlich 50 ihrer 59 Fraktionsmitglieder. Ihnen wird vorgeworfen, als politischer Arm der Terrororganisation PKK zu agieren. Erdoğan hatte in den letzten  Wochen massiv für die Aufhebung ihrer Immunität geworben – und reagierte am Freitag prompt: „Meine Nation will im Parlament keine kriminellen Parlamentarier sehen – geschweige denn die Unterstützer der separatistischen Terrororganisation. Sie sollen auf jeden Fall den Preis dafür zahlen“.

Mehrheit der Türken für Anti-Kurden-Kurs

Tatsächlich befürwortet wohl eine große Mehrheit in der Türkei die Entscheidung. Denn das Land leidet seit Monaten unter dem brutalen PKK-Terror, zudem sind viele Türken nationalistisch gesinnt und fürchten nichts mehr als die Teilung ihres Landes durch die Separatisten. Auf der Klaviatur von Angst und Nationalstolz weiß Erdoğan meisterhaft zu spielen – und mit ihm die überwiegend regierungstreuen Medien.

Dabei unterhält die HDP unbestritten Verbindungen zur PKK, ob durch Familienmitglieder oder ihre Wählerschaft. In der Parteizentrale in Istanbul hängt schon im Warteraum ein Bild des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan. Wahr ist aber auch, dass die HDP angetreten ist, um den Kurdenkonflikt mit demokratischen Mitteln zu lösen. Ihre Vision einer pluralistischen, liberaleren Türkei faszinierten einst auch viele Nicht-Kurden.

Erdoğan kündigte Friedenprozess mit PKK auf

Doch kurz nach dem Wahlerfolg der HDP im letzten Sommer kündigte Erdoğan den Friedensprozess mit der PKK auf, den er 2013 noch selbst ins Leben gerufen hatte. Freilich war auch die PKK mehr als bereit, den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen. Die HDP wurde damit gleich von zwei Seiten in die Klemme genommen – und das zarte Pflänzchen der Hoffnung auf einen demokratischen Wandel gnadenlos zertreten.

Seither führt der türkische Staat einen erbarmungslosen Krieg gegen die PKK im Südosten des Landes, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Sollte nun auch noch ein Großteil der HDP-Abgeordneten aus dem Parlament geworfen werden, dürfte das bei vielen Kurden die Wut auf den türkischen Staat nur noch verschärfen und eine friedliche Lösung in weite Ferne rücken.

Kurden-Konflikt droht zu eskalieren

Eigentlich hat die Türkei damit Erfahrung: 1994 wurde bereits die Immunität sechs kurdischer Abgeordnete aufgehoben, sie wurden gleich an der Parlamentstür festgenommen und zu hohen Haftstrafen verurteilt. Der PKK-Konflikt trat daraufhin in seine blutigste Phase; Experten fürchten nun eine ähnliche Entwicklung. Doch ihre Stimmen sind kaum noch zu hören – zu verbreitet ist die Angst, als Terrorunterstützer zu gelten.

Das mag auch erklären, warum bei der Abstimmung am Freitag selbst zahlreiche Abgeordnete der sozialdemokratischen CHP mit Ja stimmten, obwohl sie um die Konsequenzen für den Kurdenkonflikt ebenso wie für die gesamte Opposition wissen. Denn die ist nun geschwächt wie nie.

Erdoğan will seine Macht in Verfassung festschreiben

Staatsanwälte können nun Strafverfahren gegen Abgeordnete aller Oppositionsparteien eröffnen – mit der Folge, dass sie ihr Mandat verlieren. Würde das im großen Stil passieren, könnten Neu- oder Nachwahlen stattfinden. Die Regierungspartei AKP und Erdoğan spekulieren in diesem Fall auf einen Stimmenzuwachs, der ihnen eine absolute Mehrheit bringen könnte. Die braucht Erdoğan, um das von ihm angestrebte Präsidialsystem einzuführen. Die Opposition stellt sich dagegen, sie fürchtet eine autoritäre Ein-Mann-Herrschaft. De Facto regiert Erdoğan schon so – doch sollte seine Macht nun auch in der Verfassung verankert werden, könnte das die Gewaltenteilung in der Türkei noch weiter aushöhlen.

Beim Parteitag der AKP wurde daran kein Zweifel gelassen. Der bisherige Transportminister Binali Yıldırım wurde dort zum neuen Parteivorsitzenden und Premier ernannt. Er betonte mehrmals, dass er Erdoğan dienen und schleunigst ein Präsidialsystem einführen werde. Sein Vorgänger Ahmet Davutoğlu hatte zum Ärger Erdoğans dabei keine Eile an den Tag gelegt und zudem die Nähe zur EU gesucht. Diese Ära ist nun beendet.

Deutliche Kritik aus der SPD

Die EU, die in der Flüchtlingskrise weiterhin auf die Türkei setzt, stürzt das in ein weiteres Dilemma. In Deutschland scheute besonders die SPD keine Kritik an der Immunitäts-Aufhebung: „Der demokratische Pluralismus in der Türkei nimmt damit nachhaltigen Schaden. Es geht dabei ausschließlich um den Erhalt und Ausbau der Macht von Präsident Erdoğan und der AKP“, erklärte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley der Deutschen Presse-Agentur.

Auch Kanzlerin Merkel dürfte das bewusst sein – sie will das Thema bei ihrem Treffen mit Erdoğan ansprechen. Viel Wirkung werden ihre Worte wohl kaum haben. Erdoğan machte in den letzten Wochen deutlich, dass er dem Druck der EU nicht nachgeben werde. Die hatte gefordert, dass die Türkei ihre Anti-Terror-Gesetzgebung ändert, weil sie darin einen Blanko-Scheck zur Verfolgung Oppositioneller sah. Die Immunitäts-Aufhebung zeigt, wie goldrichtig sie damit lag.

 

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Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

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