International

So lähmt Erdogan die Opposition in der Türkei

Mit Hilfe des Ausnahmezustandes setzt Ankara politische Gegner und Medien massiv unter Druck. Wer es wagt, den Staatschef zu kritisieren, wird schnell zum Terroristen erklärt und brutal verfolgt. Nach den jüngsten Terroranschlägen in Istanbul radikalisiert Erdogan diesen Kurs immer mehr.
von Kristina Karasu · 15. Dezember 2016
PPräsident Recep Tayyip Erdogan: Er schaltet die Opposition aus - Schritt für Schritt.
PPräsident Recep Tayyip Erdogan: Er schaltet die Opposition aus - Schritt für Schritt.

Die Türkei ist größer als Erdogan“, appellierte die Sprecherin der größten Oppositionspartei CHP Selin Sayek Böke Ende November an das EU-Parlament. Doch die Worte der Schwesterpartei der SPD halfen nichts: Mit überwältigender Mehrheit stimmten die EU-Abgeordneten dafür, die Beitrittsgespräche mit der Türkei einzufrieren. Der scheinbar allmächtige Staatspräsident Recep Tayyip Erdog˘an und seine Gefolgsleute hatten mal wieder alle anderen Stimmen in seinem Land übertönt.

Erdogan hat Opposition und Medien im Griff

Massenentlassungen, Verhaftungswellen, die Schließung von mehr als 170 kritischen Medien und mehr als 370 zivilgesellschaftlichen Organisationen: Der Ausnahmezustand hat das Land weiter im Griff, die Regierung scheint außer Rand und Band. Und die Opposition, so wirkt es auf viele Türken, schaut tatenlos zu. Dazu tragen auch die eingeschüchterten Medien bei, die Oppositionspolitikern kaum noch Sendezeit einräumen. Auch wenn die Opposition etwas Wichtiges zu sagen hat – das Volk erfährt nur schwer davon.

Während die CHP in den ersten Monaten nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli auf Annäherung zur Regierungspartei AKP ging, hat sich ihr Ton mittlerweile verschärft. Ein ums andere Mal fordert ihr Vorsitzender Kemal Kılıçdaroglu die AKP auf, Rechtsstaatlichkeit zu wahren. „Lass uns absolute Demokratie und Freiheit in die Türkei bringen, ohne darauf zu warten, dass die EU ein weiteres Kapitel öffnet“ appellierte er am 27. November an Premier Binali Yıldırım – doch erneut ohne Wirkung.

Schwache Opposition der CHP

Das liegt auch daran, dass Kılıçdaroglu bloß als schwacher Oppositionsführer wahrgenommen wird. Statt eine wirklich sozialdemokratische Alternative zu bieten, reagiert er seit Jahren nur auf Erdogan. Gegen nationalistische Hardliner in seiner Partei kommt er kaum an. Regierungskritische Türken, die verzweifelt auf politischen Wandel hoffen, setzen kaum noch auf ihn.

Zudem ist Kılıçdaroglu nicht ganz unschuldig an den momentanen Entwicklungen. Die Stimmen der CHP hatten dazu beigetragen, dass im Mai die Immunität von rund einem Viertel der türkischen Parlamentsabgeordneten aufgehoben wurde. Das bereitete die Grundlage dafür, dass Anfang November rund ein Dutzend Abgeordnete der kurdennahen HDP verhaftet wurden, darunter ihre Co-Vorsitzenden. Zudem wurden in den vorigen Wochen über 30 kurdische Bürgermeister abgesetzt oder gar verhaftet. Nach den jüngsten Terroranschlägen im Dezember wurden (bis Redaktionsschluss) rund 200 HDP-Politiker verhaftet. Ihnen allen wird Mitgliedschaft in der verbotenen PKK vorgeworfen.

Der Weg in die Autokratie

Die CHP-Fraktion verurteilte die Verhaftungen der HDP-Politiker scharf als verfassungswidrig – und wurde daraufhin prompt von der AKP und Staatspräsident Erdogan mit Anklagen überzogen. Wer es wagt zu kritisieren, wird in diesen Tagen in der Türkei schon beinahe automatisch zum Terroristen erklärt. Ein lähmendes Totschlagargument.

Die ultrarechte MHP hingegen begrüßte die Verhaftung der HDP-Politiker – der harte, nationalistische Kurs der -Regierung passt bestens zu ihrer eigenen Linie. Ihr Parteichef Devlet Bahçeli signalisiert neuerdings gar Zustimmung zum vom Präsidenten Recep Tayyip Erdogan angestrebten Präsidialsystem. Das dürfte der AKP-Regierung endlich genügend Stimmen im Parlament sichern, um voraussichtlich im Frühling ein Referendum darüber abhalten zu lassen.

Erdogans Präsidialsystem kommt

Am 1. Dezember haben der türkische Premierminister Binali Yıldırım und der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli -bekannt gegeben, dass sie sich auf einen Entwurf zur Änderung der Verfassung hin zu -einem Präsidialsystem geeinigt hätten. Das bedeutet, dass der Entwurf wohl dem Parlament vorgelegt wird und zusammen mit der MHP genug Stimmen erhalten könnte, um darüber ein Referendum im Frühling abhalten zu können.

Hat die türkische Opposition also jegliche Schlagkraft verloren? Nicht vollständig. Mitte November versuchte die AKP-Regierung ein skandalöses Gesetz durchs Parlament zu bringen, dass bei Missbrauch an Minderjährigen dem Täter unter bestimmten Bedingungen Straferlass gewährt, wenn er sein Opfer heiratet. Die Opposition, insbesondere die CHP, ging auf die Barrikaden, -Frauenorganisationen auf die Straße, die Medien diskutierten das Thema tagelang. Selbst eine AKP-nahe Frauenorganisation wagte Widerspruch. Schließlich gab die AKP klein bei und zog das Gesetz zurück. Zum Terroristen konnte sie bei diesem Thema niemanden deklarieren. Und die Opposition fühlte zum ersten Mal seit langer Zeit, dass sie etwas erreichen kann – wenn sie mit Zivilgesellschaft und Medien zusammensteht.

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare