International

So denkt man in der Türkei über Böhmermanns Erdoğan-Gedicht

Die Diskussion um Jan Böhmermanns „Schmähgedicht“ dominiert seit Tagen die deutschen Medien – doch was denkt man in der Türkei darüber? Während die Regierung poltert, gehört für Oppositionelle eine Anklage wegen Präsidentenbeleidigung schon zur Normalität.
von Kristina Karasu · 15. April 2016
Verlangt Gefolgschaft, bestraft Kritik: Der Türkische Präsident Erdoğan, hier mit seiner Frau
Verlangt Gefolgschaft, bestraft Kritik: Der Türkische Präsident Erdoğan, hier mit seiner Frau

„Erdoğan-Beleidigung bleibt nicht ungestraft“ titelt das regierungsnahe Massenblatt Sabah Freitagmittag groß auf seiner Internetseite. Türkische Zeitungen verbreiten in Windeseile, dass Angela Merkel einem Strafverfahren gegen den ZDF-Komiker Jan Böhmermann zugestimmt hat.

Ankara: Böhmermann beging "Verbrechen gegen die Menschlichkeit"

Auch in der Türkei sorgt dessen „Schmähgedicht“ für Zündstoff. Das ZDF-Studio in Istanbul wird schon zu Beginn der Krise von etwa dreißig wütenden Erdoğan-Anhängern mit Eiern beworfen. Sie verbieten sich jede Kritik an ihrem Präsidenten – und fühlen sich mit dem Gedicht in ihrem Glauben bestärkt, der feindlich gesinnte Westen verachte sie. Erdoğan stellt Strafanzeige gegen Böhmermann, der türkische Vize-Premier nennt sein Gedicht gar ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Auch viele Regierungskritiker halten das Gedicht für geschmacklos, so etwa der Hürriyet-Kolumnist Mehmet Y. Yılmaz: „Noch nie wurden wir Zeuge von politischer Satire von so niedrigem Niveau.“ Das Gedicht habe ihn nicht zum Lachen gebracht, sondern vielmehr Ekel erregt.“ Als Zuschauer dachte ich, dass meine Intelligenz beleidigt wurde.“ Gleichzeitig warnt er vor überzogenen politischen Reaktionen auf ein „dummes Satire-Programm“.

In der Türkei keine große Satire-Debatte

Eine große Debatte über die Satire sucht man allerdings vergeblich in der Türkei. Nur die wenigsten haben von dem Schmähgedicht gehört, geschweige denn es angesehen. So blickt man in fragende Gesichter, wenn man auf Istanbuls Straßen nach Meinungen dazu sucht. „Na, da haben wir jetzt auch noch Deutschland aufgemischt!“ kommentiert ein Antiquitäten-Händler lachend. Er lässt offen, ob er das gut oder schlecht findet. Eine junge Kiosk-Besitzerin erklärt, dass so ein Thema in der Türkei nun wirklich kein Aufreger mehr sei: „Bei uns werden doch täglich Menschen wegen Präsidenten-Beleidigung angeklagt. Das ist schon traurige Normalität.“

Tatsächlich wurden seit Erdoğans Amtsantritt als Staatspräsident im August 2014 nahezu 2000 Strafverfahren wegen Präsidenten-Beleidigung eingeleitet, die meisten von Erdoğans Anwälten persönlich. Nicht bloß Medienvertreter werden angeklagt, sondern jede Art von Bürger – vom Schüler bis zum Rentner. Oft genügen schon harmlose Kommentare auf Facebook oder Twitter – mit selten so drastischen Worten wie denen von Jan Böhmermann. „Alles kann mittlerweile als Präsidenten-Beleidigung ausgelegt werden“ betont eine ehemalige Gezi-Aktivistin, „Man weiß schon gar nicht mehr, was man noch sagen darf und was nicht.“

Selbstzensur aus Angst in türkischen Medien

So regiert Angst die türkische Öffentlichkeit. Selbstzensur ist in den Medien weitverbreitet, insbesondere seit den Wahlen im November, aus denen die AKP-Regierung gestärkt hervorging. Das spiegelt sich auch in der eigentlich sehr lebendigen türkischen Karikaturisten-Szene wieder, deren Arbeit zunehmend erschwert wird. Dabei haben die Türken eigentlich einen herrlichen Sinn für Humor. Wer etwa all die kreativen Gedichte, Lieder und Karikaturen der Gezi-Proteste kennt, der weiß, dass sich so mancher deutscher Komiker beim Thema Humor von den Türken eine Scheibe abschneiden könnte.

Unfreiwillig komisch hingegen geriet ein am Samstag ausgestrahlter Beitrag des Pro-Regierungssenders A-Haber. Darin will der türkische Reporter Mevlüt Yüksel es dem ZDF nach dem Böhmermann-Gedicht heimzahlen. Aufgeregt steht er vor dem ZDF-Hauptgebäude in Mainz und erklärt, man habe ihm den Zugang verwert - ein Beweis für die mangelnde Pressefreiheit in Deutschland. Doch zu sehen ist davon nichts, dramatisch ist bloß die unterlegte Musik.

Erdoğans Regierungssender gegen das ZDF

Während der Reporter im Vordergrund herumspringt, unterhält sich im Hintergrund ein ZDF-Sprecher freundlich mit seinem Dolmetscher. „Schauen Sie, er hat die Hände in den Hosentaschen, eine grobe Unhöflichkeit!“ eifert hingegen der Reporter. „Er zittert geradezu vor Wut!“ Fraglich, ob irgendjemand in der Türkei das glauben mag. Das Video wurde dort prompt zum YouTube-Hit – als beispiellose Real-Satire der regierungstreuen Medien.

 

 

Autor*in
Kristina Karasu

arbeitet als Journalistin für TV, Print, Online und Radio. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf den Themen Gesellschaft und Politik, Kultur, Migration und Bildung. Sie lebt in Istanbul.

0 Kommentare
Noch keine Kommentare