Situation in der Ukraine: Zwischen halbgarem Frieden und Krieg
Seit Tagen sprechen in der Ostukraine wieder die Kanonen. Die OSZE bestätigt den Einsatz von 122- und 155-mm-Haubitzen. Augenzeugen berichten von schweren Panzern auf beiden Seiten, die nach dem Minsker Abkommen längst aus der entmilitarisierten Zone, unter anderem bei Mariupol, hätten abgezogen werden sollen. „Äußerst besorgt“ – das ist mit Abstand der verbreitete Kommentar der deutschen, US-amerikanischen, ukrainischen und russischen Spitzenpolitiker. Frank-Walter Steinmeier benutzte in seiner jüngsten Äußerung sogar eine Superlativ-Form und sprach von der „allergrößten Sorge“.
Russland und die Separatisten sowie der Westen und Kiew beschuldigen sich gegenseitig. Die ukrainische Regierung wirft Moskau die Vorbereitung einer Großoffensive vor, mit dem Ziel, Mariupol einzunehmen. Die Separatistensprecher verstehen die Verstärkung der ukrainischen Truppen in den Gebieten als Zeichen für einen Versuch, diese Regionen zurückzuerobern.
„Kriegspartei“ gegen „Friedenspartei“
Die deutsche Berichterstattung präsentiert die Konfliktparteien in der Regel als homogene Gebilde, die entschlossen eine Absicht verfolgen. Dies macht es aber schwer, die Handlungsspielräume der Akteure zu analysieren und sich in die Situation der Menschen vor Ort hineinzuversetzen.
Unmittelbar nach dem Beginn der Auseinandersetzung im Osten des Landes haben sich in der Kiewer Regierungsriege zwei Gruppen herauskristallisiert: eine „Kriegspartei“, die sich für den militärischen Wiedergewinn der abtrünnigen Gebiete stark macht, und eine „Friedenspartei“, die eher auf die Sanktionspolitik und Hilfe des Westens im Konflikt gegen Russland setzt. In letzter Zeit meldet sich in der Presse auch eine dritte „Fraktion“ zu Wort. Mehrere Autoren bezeichneten die Krim und die Region Donbass als „Last“ für das Kernland und plädierten für einen – informellen – Verzicht auf diese Gebiete. Die Autoren meinen, das könne den Weg der Ukraine nach Europa beschleunigen, denn die Hochburg der prorussischen Kräfte soll ausgerechnet dort liegen.
Große Vielfalt an Protagonisten
Einig sind sich die „Falken“ und die „Tauben“ bei der Einschätzung eigener Militärstärke. Ohne ausländische Waffenlieferung, Unterstellung aller Freiwilligenbataillone dem zentralen Kommando und Stabilisierung der Wirtschaftslage ist kein entscheidender Schlag gegen die selbsternannten „Volksrepubliken“ möglich.
Auch nach dem Wegzug bekannter russischer Freischärler aus der Ostukraine wie des de facto „Verteidigungschef“ der separatistischen „Volksrepublik Donezk“, Igor Strelkow, bzw. nach dem Tod von Aleksej Mosgowoj, dem Anführer der Separatisten-Brigade „Prisrak“ und bekennendem Gegner der jetzigen Rebellenführung, besteht die separatistische Führungsetage aus verschiedenen Personen, die nur beschränkt auf eine Linie zu bringen sind: Feldkommandeure, ehemalige Stadtverordnete der Janukowytsch-Partei, russische Berater, Söldner, Sowjetnostalgiker, Geschäftsleute und andere.
Der Druck auf Putin wächst
Einige Rebellen finden sich mit der Defensivstrategie ihrer „Oberhäupter“ sowie mit der eigenen Komparsenrolle nicht ab und zeigen Unmut. Es wird jedoch ersichtlich, dass eine großangelegte Aktion wie die Eroberung Mariupols ohne technische, personelle und logistische Unterstützung aus Russland nicht umsetzbar wäre. Moskau verzichtete notgedrungen auf das „Projekt Neurussland“, weil es sich derzeit eine erneute Zuspitzung des Konfliktes finanziell und politisch nicht leisten kann. Der Druck auf Putin wächst und wird angesichts der aktuellen Wirtschaftslage Russlands weiter wachsen. Deshalb sind eher kleinere Aktionen der Separatistentruppen zu erwarten. Aktionen, welche einerseits die Donbass-Bevölkerung zufrieden stellen sollen – und andererseits die eigene Unfähigkeit verschleiern sollen, das erklärte Ziel, die Kontrolle über die gesamte Ostukraine, zu erreichen.
Steinmeier zeigte Russland noch im März dieses Jahres eine klare Rote Line auf: Die Einnahme von Mariupol würde einen Ausstieg aus dem Minsker Prozess und eine neue Sanktionsstufe gegen Moskau nach sich ziehen. Das sind die einzigen Mechanismen, über die die EU gegenwärtig verfügt. Eine offizielle Beendigung des Minsker Friedens würde Moskau noch härter treffen als jede Handelseinschränkung. Denn dann würde es vor ein Dilemma gestellt: Es müsste sich entweder für eine massive und unverhohlene Unterstützung der Separatisten entscheiden, was eine starke Gegenreaktion des Westens zur Folge hätte. Oder es müsste das Ende der „Volksrepubliken“ erklären, mit schwer vorhersehbaren innenpolitischen Folgen für den Kreml.
Erhalt des Status quo
Bei allen Gegensätzen haben die Kontrahenten doch eins gemeinsam: Sie wollen den Status quo erhalten. Das hat einige Vorteile: eine Atempause für die EU und für die regierenden Demokraten im Weißen Haus ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl, eine gesellschaftliche Konsolidierung für Kiew, eine Gesichtswahrung für Moskau und wenigstens ein Zeitgewinn für die Separatistenanführer.