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Situation in der Ostukraine: „Höhepunkt einer Spirale der Zuspitzung“

Seit Ende Februar kommt es zu vermehrten russischen Truppenbewegungen in der Ostukraine. Was das zu bedeuten hat und was daraus folgen könnte, erläutert Marcel Röthig, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in der Ukraine.
von Nikolaos Gavalakis · 9. April 2021
Spuren des Konflikts in der Ostukraine.
Spuren des Konflikts in der Ostukraine.

Seit vergangener Woche konzentriert Russland vermehrt Militäreinheiten entlang der ukrainischen Grenze. Wie werden die Drohgebärden aus Moskau in Kiew wahrgenommen?

Die Berichte über großangelegte Truppenbewegung Russlands in Richtung ukrainische Grenze und auf die Krim sind der vorläufige Höhepunkt einer Spirale der Zuspitzung, wie wir sie seit der letzten Februarwoche beobachten können. Die in der Regel sehr gut informierte „Östliche Menschenrechtsgruppe“ berichtet seitdem von Kriegsvorbereitungen in den besetzten Teilen der Donezker und Luhansker Gebiete, den sogenannten „Donezker und Lugansker Volksrepubliken“: Treibstofflieferungen, nächtliche Militärkolonnen, die die russische Grenze in die „Volksrepubliken“ überquerten und Truppenübungsplätze, die rund um die Uhr in Betrieb sind. In den Schulen wurde vor einem bevorstehenden Angriff ukrainischer Streitkräfte gewarnt, es wurden Freiwilligenverbände konsolidiert und Einberufungen vorgenommen. Die OSZE wiederum berichtete Anfang März auch von Truppenbewegungen auf ukrainischer Seite – unter anderem Panzer, Raketen und Luftabwehrsysteme.

In Kiew wird offen vor einer bevorstehenden russischen Intervention gewarnt – entweder im Osten des Landes oder von Süden her, mit dem Ziel, die Wasserversorgung der Krim, die seit 2017 stillsteht, wiederherzustellen. Russland warf der Ukraine hier zuletzt ein Verbrechen an den Menschen der Krim vor, Kiew wiederum beruft sich auf das Völkerrecht, wonach Russland als Besatzungsmacht der Krim für dessen Versorgung zuständig ist. Faktisch liegt der Nord-Krim-Kanal, über den früher etwa 85 Prozent der Bevölkerung der Krim mit Wasser versorgt wurden, trocken. Die Krim verfügt über kaum eigene Grundwasserreserven. Versuche, Grundwasser unter dem Asowschen Meer anzupumpen oder aufwendige Entsalzungsmaßnahmen durchzuführen, scheitern am Know-How – das unternehmerische Risiko wird aufgrund des Sanktionsregimes kein erfahrenes ausländisches Unternehmen tragen wollen.

Also haben wir es mit einer Bedrohung von zwei Seiten zu tun: Die Krim und ihre prekäre Wasserversorgung und die stockende politische Lösung im Osten. In der Ukraine, die momentan auf dem ersten Platz der Corona-Mortalität in Europa liegt, droht somit noch größeres Ungemach und es wird offen über eine Mobilisierung nachgedacht.

Droht ein offener Krieg zwischen der Ukraine und Russland?

Russlands Vorgehen ist eine Einschüchterungstaktik. Die aktuellen Aktionen scheinen weder regelmäßige Übungen zu sein noch sind sie notwendigerweise ein Auftakt zu einer Offensive. Die Aktivität ist beispielhaft für Zwangsdiplomatie, eine russische Anstrengung, harte militärische Macht einzusetzen, um die Ukraine politisch unter Druck zu setzen, und gleichermaßen ein Signal an die Partner der Ukraine im Westen.

Unabhängig davon, ob Russland eine Invasion plant oder nicht, liegt die eigentliche Gefahr darin, dass eine Seite in diesem gegenseitigen Hochschaukeln einen schwerwiegenden Fehler macht, der zu einer militärischen Eskalation führt. Was wir erleben, gleicht zwei fahrenden Zügen, die unentwegt aufeinander zurasen.

Die Entwicklung ähnelt daher in gewissen Zügen der Lage in Abchasien im Jahr 2008: Russland hat in den letzten Jahren etwa 420.000 Pässe in den besetzten Teilen von Donezk und Luhansk ausgegeben, ähnlich wie damals in Abchasien, als Russland die Ansicht vertrat, es müsse mit seinem Eingreifen im Kaukasus seine Staatsbürger schützen. Eine militärische Konfrontation könnte zur Folge haben, dass Russland eine selbsternannte „Friedenstruppe“ in diese Gebiete schickt, die beiden „Volksrepubliken“ vereinigt und als unabhängigen Staat anerkennt. Der Westen hat auf Russland dabei nur noch wenig Einflussmöglichkeiten, die Beziehungen sind ohnehin am Boden, und bei Hardlinern in Moskau könnte das Gefühl erwachsen, man habe sowieso nichts mehr zu verlieren. 

Der Krieg in Berg-Karabach hat zudem zu Einzelstimmen in Kiew geführt, die im Vorgehen Aserbaidschans ein mögliches Beispiel auch für die Ukraine sehen: Durch ein schnelles, drohnengestütztes Vorgehen könne so ein nicht lösbar erscheinender Konflikt eine neue Richtung bekommen. Fatal ist, dass dabei offenkundig die eher geringen militärischen Fähigkeiten Armeniens mit denen Russlands in der Ukraine gleichgestellt werden.

Trotz Waffenruhe kommt es seit Wochen immer wieder zu tödlichen Zwischenfällen im Osten des Landes. Warum sind die Kämpfe zuletzt wieder aufgeflammt?

Fakt ist, dass mit dem Amtsantritt Präsident Selenskyjs der bislang am besten funktionierende, wenn auch nicht vollumfängliche Waffenstillstand möglich wurde. Das Normandie-Format wurde wiederbelebt, und auf der humanitären Ebene gab es gewisse Fortschritte. Politisch ist man jedoch in einer Sackgasse angekommen. Vorschläge Frankreichs und Deutschlands, der Umsetzung des Minsker Abkommens sektoral näherzukommen, wurden unlängst in der russischen Tageszeitung „Kommersant“ geleakt, womit davon auszugehen ist, dass diese Initiative keinen Konsens gefunden hat.

Zuletzt hatte es Gespräche im Normandie-Format nur noch auf Beraterebene gegeben, von einem eigentlich anvisierten Gipfeltreffen kann keine Rede mehr sein. Die trilaterale Kontaktgruppe in Minsk, die bislang wohl noch am effektivsten arbeitete, wird inzwischen offen infrage gestellt.

Kiew sieht Minsk aufgrund der politischen Entwicklungen in Belarus nicht mehr als neutralen Ort und schlägt eine Verlegung vor, etwa nach Warschau. Hier jedoch haben die Vertreter der sogenannten „Volksrepubliken“ keine Möglichkeit einzureisen. Beide Seiten kritisierten zuletzt immer wieder das Minsker Abkommen. Aus Kiew gibt es gelegentlich Äußerungen, es sei nicht mehr zeitgemäß.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell hat der Ukraine „unerschütterliche EU-Unterstützung für die Souveränität und territoriale Integrität“ zugesichert. Das Eingreifen von EU-Armeen im Angriffsfall ist jedoch eher unrealistisch. Was erwartet Kiew von Brüssel?

Das Normandie-Format und die Minsker Kontaktgruppe sind ins Stocken geraten. Die derzeitige militärische Zuspitzung muss in eine Intensivierung der Diplomatie münden, ehe es zu spät ist. Die Ukraine fordert insbesondere Paris und Berlin auf, eine noch aktivere Rolle im Normandie-Format einzunehmen – dies ist sicherlich auch vor dem Hintergrund der Bundestagswahlen zu sehen und der völligen Unklarheit, wer im Herbst ins Kanzleramt einzieht.

Aus Sicht der Ukraine haben das Normandie-Format und die Minsker Abkommen zu Ergebnissen in Form einer Stabilisierung der Situation vor Ort, eines Austauschs von Gefangenen und eines Waffenstillstands geführt. „Das Normandie-Format reicht aus, um die Situation zu stabilisieren. Es ist jedoch offensichtlich, dass wir, um zu einer echten Lösung zu gelangen, eine aktivere Position Frankreichs und Deutschlands innerhalb des Normandie-Formats oder einen externen Faktor benötigen, ein wenig zusätzliche Energie, die dem Prozess Impulse geben und den Status quo ändern wird“, so der ukrainische Außenminister Kuleba. Mit dem „externen Faktor“ wird sicherlich auf Washington verwiesen.

Nach einer Eiszeit unter Ex-Präsident Trump stehen die US-ukrainischen Beziehungen mit der Amtsübernahme Joe Bidens wieder unter einem besseren Stern. Welche Rolle können die USA denn in der Ukraine spielen?

Die Lage in und um die Ukraine ist letztlich auch ein Test Russlands, wie weit die Biden-Administration bereit ist, die Ukraine zu unterstützen. Kiew sieht sich durch positive und solidarische Signale aus Washington gestärkt. Die Gefahr liegt jedoch darin, dass dieses Gefühl der moralischen und politischen Unterstützung gleichgesetzt wird mit der Bereitschaft der Vereinigten Staaten, der Ukraine notfalls auch militärisch beizustehen, und somit die Hemmschwelle für ein eigenes militärisches Agieren senkt.

In Georgien hat sich 2008 gezeigt, dass die USA engen Verbündeten im Zweifelsfall nicht militärisch beistehen, wenn diese nicht Mitglied der NATO sind. Selenskyj hat unlängst die NATO-Mitgliedschaft als einzigen Weg der Konfliktlösung bezeichnet. Über die Mitgliedschaft im Atlantischen Bündnis entscheiden jedoch nicht die USA allein. Die Unterstützung der Amerikaner ist zentral für die Ukraine – für die wirtschaftliche Entwicklung, die Stärkung der Streitkräfte, die internationale Sicherheit und im Kampf gegen die Korruption. Die Ukraine wünscht sich jedoch eine stärkere Einbeziehung der USA in den diplomatischen Prozess. Momentan hat Washington jedoch noch nicht einmal einen Botschafter nach Kiew entsandt, und auch die früher durch Kurt Volker besetzte Stelle des Ukraine-Sonderbeauftragten ist vakant.

Erschienen am 8. April im IPG-Journal.

Autor*in
Nikolaos Gavalakis

leitet die Redaktion des IPG-Journals. Zuvor war er Leiter des Regionalbüros „Dialog Osteuropa“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kiew. Er hat in Mainz und Kalifornien Politikwissenschaft, Jura und Amerikanistik studiert.

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