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Singapur zeigt: Eine Corona-App kann diszipliniertes Social Distancing nicht ersetzen

Eine Corona-App gilt vielen Ländern als Möglichkeit, trotz des Virus zur Normalität zurückzukehren. Das Beispiel Singapur zeigt, dass Einschränkungen im öffentlichen Leben dennoch notwendig bleiben. Denn in Südostasien rollt eine neue Infektionswelle.
von Mirco Günther · 13. April 2020
Mit einer App gegen Corona? Singapur zeigt, dass dies nur ein Teil einer erfolgreichen Strategie gegen das Virus sein kann.
Mit einer App gegen Corona? Singapur zeigt, dass dies nur ein Teil einer erfolgreichen Strategie gegen das Virus sein kann.

„Wir brauchen Dich! Hilf mit, die Ausbreitung von COVID-19 zu stoppen!“ Diesen Text gibt es in Singapur täglich aufs Handy. Gesendet wird er von „TraceTogether“, der international viel besprochenen App des Stadtstaates zur Nachverfolgung von Kontakt- und Infektionsketten. Eingeführt am 21. März, nutzt TraceTogether die Bluetooth-Funktion von Telefonen und speichert anonymisierte IDs anderer Nutzer im Umkreis von zwei bis fünf Metern. Der Download ist freiwillig. Gespeichert werden lediglich die Mobilfunknummern, keine Namen oder Orte.

Die Corona-Ausbreitung lässt sich von allen nachverfolgen

Wird jemand positiv getestet, müssen die Daten den Gesundheitsbehörden übergeben werden. Nur dort dürfen sie dechiffriert werden. Alle betroffenen Kontaktpersonen werden informiert und müssen sich präventiv in eine zweiwöchige Heimquarantäne begeben. Zu Anfang April hatten bereits ein Fünftel aller Singapurer die App heruntergeladen, mehr als eine Millionen Menschen.

Innovative technische Lösungen und umfassende Informationen für die Öffentlichkeit sind Kernbestanteile des Singapurer Modells zum Umgang mit COVID-19. Über den Regierungsinformationsdienst Gov.sg werden täglich WhatsApp-Updates versendet zu aktuellen Fällen und Clustern. Der Nachrichtenkanal „Channel News Asia“ und die Zeitung „The Straits Times“ zeigen in Diagrammen die Infektionscluster, welche es in Singapur aktuell gibt und wie sie miteinander verbunden sind. Ein gigantisches Spinnennetz aus Datenpunkten, an welchen sich der Verlauf der Ausbreitung nachvollziehen lässt.

Eine zweite Corona-Welle erschüttert Südostasien

Das öffentliche Teilen personenbezogener Daten wie Alter, Nationalität, Geschlecht und Reisebewegungen infizierter Personen wäre mit den strengen Auflagen der europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) sicher unvereinbar. In der Entwicklung einer Tracking-App mit Bluetooth und anonymisierten IDs  scheinen sich Bundesregierung, Bundeswehr und die Initiative Pan-European Privacy-Preserving Proximity Tracing (PEPP-PT) mit dem Fraunhofer Heinrich-Hertz-Institut für Nachrichtentechnik aber durchaus an Singapur zu orientieren, ebenso die österreichische App „Stopp Corona“. Den Quellcode für „TraceTogether“ hat Singapur als Open Source zur Verfügung gestellt.

In diesen Tagen sieht sich ganz Südostasien mit einer schweren zweiten Welle von COVID-19-Infektionen konfrontiert. In Singapur haben sich die Fälle binnen eines Monats mehr als verzehnfacht. Das viel gelobte „Contact Tracing“ erfährt eine enorme Belastungsprobe. Rigoroses Testen, konsequentes Isolieren, detailliertes Clustern und die Rekonstruktion von Infektionsketten bleiben zentrale Elemente aus dem erfolgreichen Management der ersten Welle im Januar und Februar. Gleichzeitig sind Anpassungen in der Strategie bei den rasant steigenden Fallzahlen unumgänglich.

Eine App kann Social Distancing nicht ersetzen

Lange wurde Singapur international als ein Beispiel hervorgehoben, wonach es eine effektive Coronastrategie auch ohne Schulschließungen, Lockdown und Atemschutzmasken für alle auskäme. Nun musste die Regierung zunächst für einen Monat weitgehende Ausgangs- und Arbeitsbeschränkungen erlassen. Mit dem sogenannten „Circuit Breaker“ (in anderen Ländern würde es wohl als Lockdown bezeichnet) schließen Schulen, die meisten Arbeitsstätten und Geschäfte. Vor die Tür darf man nur noch für essentielle Besorgungen.

Das ist auch eine wichtige Botschaft für Deutschland, wo aktuell über Lockerungen nach der Osterpause diskutiert wird und die Idee einer Corona-App eine zentrale Rolle in den Überlegungen zu einer schrittweisen Rückkehr zum Alltag spielt. Eine App für die Nachverfolgung von Infektionen und Kontakten kann diszipliniertes Social Distancing nicht ersetzen. Die jetzt gemachten Erfahrungen in ganz Südostasien sind auch eine Warnung, was passiert, wenn man Maßnahmen zu früh wieder lockert oder nicht konsequent umsetzt.

Singapur selbst ist sich dessen im Übrigen vollkommen bewusst. Hier hat man das überschwängliche internationale Lob für das Krisenmanagement des Stadtstaates immer mit der notwendigen Nüchternheit gesehen. So sagte Premierminister Lee Hsien Loong in einem kürzlichen CNN Interview auf die Frage, was der Schlüssel zu Singapurs Erfolg sei: „Ich zögere, über Erfolg zu sprechen, denn wir sind mitten in einem Kampf, der sich verschärft.“

Autor*in
Mirco Günther

ist Leiter des Regionalbüros der Friedrich-Ebert-Stiftung für Asien mit Sitz in Singapur. Er war zuvor Büroleiter in Afghanistan und hat Politikwissenschaft u.a. an der Harvard Universität und St. Andrews studiert.

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