Sergio Mattarella: Warum er doch Staatspräsident von Italien bleibt
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Acht Wahlgänge – das ist für italienische Verhältnisse noch wenig für eine Präsidentschaftswahl in Italien, meint Sofia Ventura. Schließlich gab es in der Vergangenheit auch mal 23 Wahlgänge, bis die Parlamentarier*innen aus den beiden Kammern ein neues Staatsoberhaupt gewählt hatten. Das war allerdings im Jahr 1971, ist also mehr als 50 Jahre her.
Trotzdem zeigen die Wiederwahl Mattarellas und die Begleitumstände einige Bruchlinien innerhalb des demokratischen Systems, wie die italienische Politikwissenschaftlerin und Michael Braun, Referent für die Friedrich-Ebert-Stiftung und Korrespondent der „taz“ in Italien, gemeinsam analysieren. „Die Wahl zeigt die Unfähigkeit des politischen Parteiensystems, den eigenen Präsidenten zu wählen“, urteilt Ventura. Das habe sich schon bei der ersten Wahl Mattarellas gezeigt, inzwischen habe es sich verstärkt. Der 80-Jährige stand eigentlich für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung, gab nach den ersten erfolglosen Wahlgängen aber nach. Aus Pflichtbewusstsein, meint Ventura.
Mario Draghi: Kandidatur ohne Rückhalt
Als Kandidat im Gespräch war zuvor Ministerpräsident Mario Draghi. Der frühere Chef der Europäischen Zentralbank konnte aber nicht mal die Parteien hinter sich versammeln, die mitregieren. Das sind mit Ausnahme der postfaschistischen Fratelli d'Italia unter Führung von Giorgia Meloni zurzeit fast alle im Parlament vertretenen Parteien. Michael Braun vermutet, dass Draghi nicht vorab ausgelotet hatte, ob die Unterstützung wirklich ausreichen würde: „Er dachte womöglich, seine Kandidatur sei ein Selbstläufer.“
Sofia Ventura, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität in Bologna, erkennt in der Wahl und der Begleitumstände alle Anzeichen einer tiefgreifenden Systemkrise. Besonders kritisiert sie die Auseinandersetzung in den Medien: „Diese Wahl ist praktisch 24 Stunden am Tag kommentiert worden.“ Politiker*innen brachten in Interviews Kandidat*innen ins Gespräch, die nicht einmal zur Wahl vorgeschlagen wurden. Ventura vergleicht diese „Show“ gar mit dem schnelllebigen Aktienhandel an der Börse. Hinzu kamen Konflikte in einer ohnehin schon stark zersplitterten Parteienlandschaft.
Lähmende Angst vor Neuwahlen
Einer dieser Konflikte zeigt auch die Kandidatur Draghis selbst, wie Michael Braun analysiert. „Draghi als Präsident hätte Neuwahlen bedeuten können“, erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter der Ebert-Stiftung in Rom, und davor hätten viele Angst gehabt. Auch die Stabilität der Notstandsregierung, der Draghi vorsteht, basiert zum Teil auf dieser Drohkulisse. Viele wollen die Regierung bis zum regulären Wahltermin im Jahr 2023 im Amt halten und haben andererseits auch eine persönliche Abneigung gegen einen „Technokraten“ Draghi als Staatsoberhaupt.
Einig sind sich Ventura und Braun außerdem in der Frage, ob nicht auch eine ganz andere Person hätte Präsident*in werden können. „Natürlich hätte es jemand anderes gegeben“, meint Ventura – auch eine Frau wäre dafür in Frage gekommen. „Aber man hat früh das Handtuch geworfen“, meint die Wissenschaftlerin mit Blick auf die wenigen Wahlgänge. Unter anderem scheiterte die Senatspräsidentin Maria Elisabetta Casellati aus der Partei von Silvio Berlusconi, Forza Italia, bei einem Wahlgang. Mattarella – so die Überzeugung – sei die einfache, sichere und kontrollierbare Variante ohne Risiko gewesen. „Man hat sich geeinigt, den Status Quo beizubehalten“, bilanziert Ventura. Das sei auch für Europa beruhigend, zeige aber gleichwohl die Grenzen des zersplitterten Parteiensystems in Italien auf.
Trotz der offenkundigen Bruchlinien unterscheiden Ventura und Braun aber auch Gewinner*innen und Verlierer*innen nach der Wahl des alten neuen Präsidenten – angefangen beim Wahlverlierer Draghi. Sofia Ventura sieht seine Position in der aktuellen Regierung gestärkt, da er weiterhin mit Neuwahlen drohen kann.
Rechtes Lager: Salvini verliert, Meloni gewinnt
Licht und Schatten gibt es indes im rechten Lager: Zunächst scheiterte Matteo Salvini mit dem Versuch, eine „Rechte Allianz“ zu schmieden. „Er hat es geschafft, diese Allianz nach beiden Seiten zu zerlegen“, so Michael Braun über den Rechtspopulisten. Davon könnte wiederum die Rechtsextreme Giorgia Meloni profitiert haben, der Ventura ein lineares und rigoroses Verhalten während der Wahl attestiert. Meloni ist Vorsitzende der rechtsextremen Partei Fratelli d’Italia und in der Opposition, Salvini als Vorsitzender der Lega Nord stützt Draghis Notstandsregierung.
Dass Silvio Berlusconi bisweilen als neuer Ministerpräsident gehandelt wurde, dann aber zurückzog, macht ihn aus Sicht von Michael Braun fast zu einem heimlichen Gewinner. Nicht wegen der Kandidatur an sich, sondern weil die Debatte um ihn international tatsächlich als Möglichkeit, als realistische Option gehandelt wurde.
So oder so dürften Streit und Debatten in der italienischen Parteienlandschaft auch im Jahr 2022 weitergehen. Braun erwartet unter anderem bei den italienischen Sozialdemokrat*innen, der Partito Democratico, harte Kämpfe um die Plätze auf den Kandidierendenlisten zur Parlamentswahl im kommenden Jahr.