Schutz von Arbeitnehmern in Europa: Wie die Entsenderichtlinie verändert werden muss
Florian Gaertner/photothek.net
Eine Großbaustelle in München. Vier Beschäftigte eines slowenischen Auftragnehmers – Yasha, Stefan, Milan und Vito – verputzen die Gebäude von innen. Insgesamt 1400 Stunden arbeiten sie zwischen Mai und Juni 2015. Ihr Lohn nach diversen Abzügen: 844 Euro pro Kopf. Sie beschweren sich – und werden prompt fristlos gekündigt, müssen ihre Quartiere räumen.
Dieses Szenario, das bei „Faire Mobilität“, dem Projekt des Deutschen Gewerkschaftsbundes zur Beratung mobiler Arbeitnehmer, registriert wurde, ist keine Ausnahme. Es veranschaulicht ein Phänomen, das in Deutschland und in anderen EU-Ländern leider allgegenwärtig ist: Die schamlose Ausbeutung entsandter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit einhergehend die Verwilderung und Lohndrückerei auf dem betroffenen Arbeitsmarkt.
Die Ungerechtigkeit wächst
„Entsandt“ bedeutet: Der Arbeitgeber schickt seine Beschäftigten für eine begrenzte Zeit ins EU-Ausland, damit sie dort arbeiten. Auf Baustellen, in der Pflege, auf Schlachthöfen oder auch im Transportwesen ist dieses Modell besonders verbreitet. Rund 400.000 entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer waren 2015 nach Angaben der EU-Kommission in Deutschland registriert, mehr als in jedem anderen EU-Land. Europaweit waren es 2015 rund zwei Millionen – Tendenz steigend. Von 2010 bis 2015 ist die Zahl der entsandten Beschäftigten um sage und schreibe 41 Prozent gewachsen. Doch damit wächst auch die Ungerechtigkeit.
Denn die entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben an ihrem temporären Einsatzort nicht mal ansatzweise die gleichen Rechte wie ihre Kollegen vor Ort. Auf dem Papier bleiben sie weitgehend in der Heimat, das heißt: Sie behalten ihren aktuellen Arbeitsvertrag und zahlen ihre Sozialversicherungsbeiträge weiter im Herkunftsland. Lohn- und Sozialdumping sind an der Tagesordnung. Tariflohn oder Kündigungsschutz? Fehlanzeige.
Kriminelle Firmen tricksen beim Mindestlohn
Die seit 1996 geltende Entsenderichtlinie der EU kann diesem Missbrauch nicht wirklich Einhalt gebieten. Zwar sieht sie vor, dass entsandte Beschäftigte den ortsüblichen Mindestlohn bekommen, aber kriminellen Firmen gelingt es, selbst diesen Standard mit Tricksereien zu unterwandern. Ein Beispiel: Der entsandte Beschäftigte bekommt zwar auf dem Papier den in Deutschland garantierten Mindestlohn – davon werden ihm aber eine „Leihgebühr“ für das Schlachtermesser oder die Kosten für den Transport zum Einsatzort abgezogen. Perfider geht es kaum.
Zudem hat der EuGH in einer Reihe von Urteilen unter Berufung auf die Dienstleistungsfreiheit die Richtlinie als Maximalstandard ausgelegt, über den die EU-Mitgliedstaaten nicht hinausgehen dürfen, das heißt: Selbst wenn sie wollten, hätten es die EU-Regierungen gegenwärtig schwer, Lohn- und Sozialdumping bei der Entsendung zu verhindern, weil das als Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit gelten könnte.
Kleine Unternehmen leiden im Dumping-Wettbewerb
Das Lohn- und Sozialdumping hat auch gravierende Folgen für den Arbeitsmarkt, auf dem die entsandten Beschäftigten eingesetzt sind. Gerade kleine und mittelgroße Unternehmen, die in Deutschland die meisten Arbeitsplätze schaffen, sowie ihre Beschäftigten leiden unter dem knallharten Dumping-Wettbewerb, denn dieser untergräbt Sozialstandardsauf und setzt Tarifverträge unter Druck. Dagegen profitieren Verbrecherfirmen, die Gesetzes- und Umsetzungslücken ausnutzen, um sich auf Kosten der entsandten Beschäftigten skrupellos zu bereichern. Eine Situation, die unterstreicht, wie groß die soziale Schlagseite des gemeinsamen Marktes wirklich ist.
Die Chance zur Verbesserung gibt es in den kommenden Monaten. Dann steht die Überarbeitung der Entsenderichtlinie in Brüssel und Straßburg auf der Agenda. Jetzt kommt es darauf an, den Vorschlag der EU-Kommission klug weiterzuentwickeln. Gute Ansätze sind da: So soll es beispielsweise künftig nicht mehr „Mindestlohnsatz“, sondern „Entlohnung“ heißen, sodass entsandten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weitaus mehr Lohnbestandteile gezahlt werden können. Auch die Gleichbehandlung entsandter und heimischer Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer ist ein wichtiger Schritt hin zu mehr Lohngerechtigkeit, von dem auch Beschäftigte im Zielland profitieren.
Es hängt an den Konservativen
Von Realitätsferne spricht dagegen der Kommissionsvorschlag, nach 24 Monate das Arbeitsrecht des Aufnahmelandes anzuwenden. Davon würde kein Beschäftigter profitieren, da Entsendungen im Schnitt weniger als vier Monate dauern. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten fordern daher eine deutlich stärkere Begrenzung. Zudem verlangen wir, dass neben allgemeinverbindlichen Tarifverträgen auch nicht-allgemeinverbindliche Tarifverträge für entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten müssen.
Attackiert wird der Vorschlag vor allem von den Wirtschaftsliberalen, während die Christdemokraten sich bisher um eine klare Positionierung drücken. Ob der Vorschlag in seiner jetzigen Form durch den federführenden Ausschuss kommt, hängt vor allem davon ab, ob sich Teile der gespaltenen Europäischen Volkspartei dem fortschrittlichen Lager anschließen – oder lieber tatenlos dabei zusehen, wie täglich Lohn- und Sozialdumping in Europa praktiziert wird.
Für uns ist klar: Lohn- und Sozialdumping nehmen wir nicht hin. Die Ausbeutung entsandter Beschäftigter muss ein Ende haben!
node:vw-infobox