Russische Bevölkerung fühlt sich von Deutschen verraten
Selbst im Kalten Krieg wurde die Bundesrepublik Deutschland von der sowjetischen Bevölkerung als ein „anderer Westen“ wahrgenommen. Während die russische Staatspresse die „westdeutschen Revanchisten“ an den Pranger stellte, hegten viele Russen große Sympathien für die Deutschen. Diese seien nicht so „imperialistisch wie die Amerikaner“ und außerdem fleißig, pünktlich und strebsam. 1990 haben viele Sowjetbürger, die von der Perestroika enttäuscht waren, ihre Hoffnungen mit Deutschland verbunden. Das wirtschaftlich und politisch starke Deutschland verkörperte in der russischen Wunschvorstellung einen gut funktionierenden Staat. Der deutsche Erfolg entsprach ihrer Vision eines besseren Russlands.
Nach der Jahrtausendwende blieb das Deutschlandbild der Russen weitgehend positiv. 2008 bewerteten in einer Umfrage der Meinungsforscher vom unabhängigen Lewada-Zentrum 77 Prozent der befragten Russen die Bundesrepublik als Supermacht. 51 Prozent votierten für eine enge Kooperation mit Deutschland und 45 Prozent mochten die Deutschen. 2012 sahen 55 Prozent der Befragten die Deutschen als „Freunde“ und 92 Prozent fanden das deutsche Sozialsystem beispielhaft. Auch die außenpolitische Haltung Deutschlands wie das Nein zum Irak-Krieg 2003 wurde von der russischen Bevölkerung bejubelt. Viele Russen sahen das als Zeichen einer alternativen und nicht zuletzt russlandfreundlichen Politik innerhalb des westlichen Bündnisses.
Ukraine-Krise ruiniert das Deutschlandbild
Die Ukraine-Krise mit der zunehmende Konfrontation zwischen Russland und dem Westen veränderte die positive Einstellung der Russen. Zwei Umfragen der staatsnahen „Stiftung Öffentliche Meinung“ vom September und November 2014 brachten neue Erkenntnisse. Aktuell halten nur noch zwei Prozent der Russen Deutschland für einen Freund. Weite Teile der russischen Bevölkerung fühlen sich von Deutschland „verraten“, weil es in der Ukraine-Krise eng an der Seite der US-Amerikaner steht. Das führt ebenfalls zu einer neuen Bewertung historischer Ereignisse, welche die postsozialistische Welt geprägt haben. Während 51 Prozent der befragten Russen den Mauerfall für richtig halten, verbinden ihn nur 39 Prozent mit dem Ende des Kalten Krieges und für 33 Prozent spielt er keine Rolle für den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Auch in den russischen Medien findet die ehemals propagierte „Sonderrolle“ Deutschlands innerhalb der westlichen Gemeinschaft jetzt keinen Platz mehr. Der wichtigste Kritikpunkt ist die „Abhängigkeit“ Berlins vom Weißen Haus. Die Deutschen werden im Licht von Ukraine-Krise und EU-Sanktionspolitik betrachtet. Noch im März bezeichnete das russische Politmagazin „Expert“ die Bundesrepublik als „Hoffnungsträger“ bei der Vermittlung zwischen Ost und West, aber im November erschien in der „Politischen Rundschau“ der Leitartikel „Deutschland ist in der Ukraine-Frage eine Konfliktpartei“, in welchem „gravierende Differenzen“ zwischen Deutschland und Russland festgestellt werden. Auch im Oktober-Heft des Russischen Instituts für strategische Forschungen ist in einer Analyse der deutschen Haltung zur Eingliederung der Krim von „Tabubruch“ und der „Zerstörung der jahrzehntelangen Traditionen“ die Rede. Die Zeitung „Vzgljad“ bezeichnet Berlin als „Konkurrenten Moskaus auf dem ukrainischen Spielfeld“.
Hoffnung ruht auf Russland-Verstehern
Zugleich zitieren die Zeitungen in Russland jede Stimme aus Deutschland, die ihrer Meinung nach eine Rückkehr zur deutschen „Sonderrolle“ bedeuten könnte, zum Beispiel Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Matthias Platzeck oder Helmut Kohl. Die Beiträge von Politikern der Linkspartei wie Gregor Gysi oder Sarah Wagenknecht treffen auf breite Zustimmung in der russischen Presse. Dasselbe gilt für die Aussagen von Alexander Gauland von der AfD, die erstaunlich oft in den russischen Medien auftauchen. Durch diese beiden Strömungen entsteht ein zwiespältiges Bild der Deutschen – pro-amerikanische Russland-Kritiker, die nicht über den Tellerand blicken können, und progressive Russland-Versteher einer mitgliederschwachen Opposition.
Das Verhältnis zwischen Russen und Deutschen wird frostiger. Das noch vor kurzem im russischen Bewusstsein domininante Idealbild Deutschlands von Wohlstand, Fleiß und Nähe zu Russland wird von der aktuellen Entwicklung in der Ukraine überschattet. Der Rechtsruck in der russischen Gesellschaft und die Sanktionen des Westens tragen jeweils ihren Teil dazu bei.