International

Ruf nach Frieden

von Franz Viohl · 15. September 2011
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"Mexikaner zum Kriegsschrei!" wird es in der Nacht vom 15. auf den 16. September auf Plätzen im ganzen Land ertönen. Die erste Strophe der Nationalhymne, die an den Kampf gegen die spanische Krone vor über 200 Jahren erinnert, mag manchem in diesem Jahr wohl nicht so leicht über die Lippen kommen. Denn Mexiko befindet sich im Krieg mit diversen Drogenkartellen, die fast den gesamten Norden des Landes kontrollieren. Und diesen Krieg, den Präsident Felipe Calderón 2006 dem "organisierten Verbrechen" erklärte und der beinahe 50000 Todesopfer gefordert hat, lehnen immer mehr Mexikaner ab.

Die Gewalt der Drogenkartelle

Die Nachrichten aus Mexiko sind in der Tat erschreckend. Im vergangenen Jahr wurde in dem Ort San Fernando ein Massengrab mit 72 Leichen entdeckt, junge Männer aus Mittelamerika, die zum Arbeiten in die USA auswandern wollten. Nur einer überlebte das Massaker. Die Migranten konnten das Erpressungsgeld, das die Kämpfer der cárteles (Kartelle) von ihnen verlangten, nicht aufbringen. Im August musste ein Fußballspiel im Bundesstaat Coahuila abgebrochen werden, als Bewaffnete das Feuer im Stadium eröffneten. Erst vor zwei Wochen starben 52 Menschen in einem Kasino in der Industriemetropole Monterrey, das von vier Männern in Brand gesetzt wurde. Der Besitzer war offenbar in Drogengeschäfte verwickelt und in Ungnade gefallen.

Die Gewalt ist in vielen Regionen Nordmexikos eskaliert. Wenn man von Eskalation sprechen kann. Denn Meldungen von Dutzenden Toten sind schon seit gut zwei Jahren Alltag im nördlichsten Land Lateinamerikas. Verschiedene Drogenkartelle kämpfen um die Kontrolle der Routen, auf denen Kokain, Heroin, Marihuana und Pillen eines ganzen Kontinents in die USA und nach Europa gelangen. Durch Schießereien, Entführungen und Enthauptungen versuchen die sogenannten narcos ihre Macht zu demonstrieren und die Menschen einzuschüchtern. Selbst große Teile der Polizei sind von den Drogenmafia vereinnahmt worden.

Protest gegen Einsatz des Militärs

Lange befürwortete eine Mehrheit Calderóns "harte Hand" gegen die Kartelle, doch der Ruf "Soldaten zurück in die Kasernen!" wird immer lauter. Der Schriftsteller Javier Sicilia, dessen Sohn von den Banden umgebracht wurde, organisiert seit März Protestmärsche, an denen Hunderttausende teilnehmen. Experten einer renommierten Universität haben der Regierung Alternativmaßnahmen empfohlen, darunter der Abzug des Militärs und der Wiederaufbau des sozialen Netzes.

Auch wenn die Legalisierung der Drogen oder das Paktieren mit den Kartellen sehr umstritten sind, setzt sich eine Ansicht durch: Ein strukturelles Problem ist die Perspektivlosigkeit junger Menschen, die weder Zugang zu guter Bildung noch zu Arbeit haben. Ciudad Juárez, Inbegriff des Drogenkriegs, ist eine Stadt voller Fabriken, die für die USA produzieren. Die Väter und Mütter arbeiten zwölf Stunden und mehr, in den Wohnvierteln gibt es kaum einen Park oder Spielplatz und die besseren Schulen sind ab der 9. Klasse alle privat. Was denkt dann ein 12-Jähriger, wenn er die Luxusautos der erfolgreichen Gangster vorbeifahren sieht?

Wirtschaftliches Potenzial

Trotz dieser Lage in weiten Teilen des Landes steht Mexiko nicht am Abgrund. Die Verbrechensrate auf der Halbinsel Yucatán ist so hoch wie in Belgien und Mexiko-Stadt ist sicherer als viele Metropolen in den Vereinigten Staaten. Die Wirtschaft schrumpfte wegen der großen Abhängigkeit vom nördlichen Nachbarland im Krisenjahr 2009 zwar um 6,1 Prozent, hat sich aber weitestgehend erholt. Einer Studie der Economist Intelligence Unit zufolge exportiert Mexiko mehr als Argentinien und Brasilien zusammen und pro Kopf mehr als China.

Von dem Wohlstand profitieren allerdings in erster Linie die zahlreichen ausländischen Firmen wie die spanische Bank BBVA oder Volkswagen - und Carlos Slim. Der Mexikaner ist einer der reichsten Männer der Welt und kontrolliert mit Telmex und dessen jeweiligen nationalen Ablegern den Großteil des Telekommunikationsgeschäfts Lateinamerikas. Die Armut hat dabei weiter zugenommen: 46,4 Prozent der Mexikaner leben von weniger als 120 Euro monatlich. Die größte Einnahmequelle sind noch vor der Ölforderung, der Industrie und dem Tourismus die Geldsendungen aus den USA. Dort leben 31 Millionen Mexikaner bzw. Menschen mit mexikanischen Vorfahren.

Engagement ohne die Parteien

Auch das Parteiensystem befindet sich in einer Krise, traut doch die Bevölkerung weder der Regierung noch der Opposition die Lösung der zentralen Probleme des Landes zu. Die neuliberale PAN von Calderón steht nicht nur wegen dem Versagen im Kampf gegen die Drogenkartelle in der Kritik, sondern ist ebenso wie die konservative PRI und die linke PRD dem Korruptionsvorwurf ausgesetzt. Der Begriff Politikverdrossenheit ist zu harmlos, um die tiefe Skepsis der Mexikaner gegenüber ihren politischen Repräsentanten zu kennzeichnen. In verschiedenen Regionen setzen sich aber zivilgesellschaftliche Gruppen für den Schutz der indigenen Bevölkerung, staatliche Bildung oder eine effektive Justiz ein. Die Wut und Trauer der Mütter, deren Söhne bei Schießereien ums Leben kamen, sind erst der Beginn eines Erwachens, das sich im Herzen regt.

Ein Radiosprecher spricht sich Mut zu: "Wir freuen uns doch alle auf den Tag der Unabhängigkeit, auf das Beisammensein in der Familie und Ausgelassenheit. Klar, dieses Jahr ist das alles schwieriger wegen der Gewalt im Land. Aber wenn wir zusammenhalten, werden wir auch das überstehen. Viva México!" Diese Zuversicht ist überall anzutreffen in Mexiko und eint die Menschen. Möglicherweise folgen viele dem Aufruf verschiedener Organisationen und bleiben den diesjährigen Feierlichkeiten aus Protest fern. Doch wer wie jedes Jahr die Hymne anstimmt, der tut das nun vielleicht nicht nur aus Gewohnheit, sondern aus Überzeugung. Dass man als Bürger zusammenhalten muss. Dass ein Kriegsschrei zum Ruf nach Frieden werden kann.

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