Repressionen in Ägypten schlimmer als unter Mubarak
Sollten Sie demnächst nach Kairo kommen, dann schlendern Sie doch mal durch die Straßen. Vielleicht sehen Sie dann in einem der vielen Kaffeehäuser folgende Szene: Ein am Schlauch seiner Schischa saugender Ägypter beugt sich über das wacklige Messingtischchen mit den Teegläsern zu seinem Nachbarn und redet auf ihn ein, aber nur leise, fast flüsternd. Der Nachbar muss sich auch vorbeugen, um die gedämpfte Stimme zu verstehen. Möglicherweise diskutieren die beiden über Politik, das würde die Tuschelei erklären: Keiner soll mithören können. Zu gefährlich!
Möglicherweise fragt der eine Freund den anderen gerade, wie es sein kann, dass der ehemalige Präsident Mubarak freigesprochen und aus dem Gefängnis entlassen wird, obwohl er doch für die mehr als 800 Toten bei den Aufständen 2011 auf dem Tahrirplatz verantwortlich sein müsste. Desgleichen auch sein damaliger Innenminister und Chef der Polizei, die auf die Demonstranten scharf geschossen hat. Selbst die beiden korrupten Söhne Mubaraks hat man ja schon laufen lassen.
Wo bleibt die Gerechtigkeit?
Wogegen dem gewählten Präsidenten Mohammed Mursi – bei diesem Namen schauen die Kaffeehausbesucher ängstlich nach rechts und nach links, ob auch wirklich keiner heimlich lauscht – also, wogegen diesem Präsidenten die Todesstrafe drohe. „Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit?“ – „Aber der ist doch ein Muslimbruder“, mag der andere einwenden und sich noch einmal vorsichtig umsehen. Resigniertes Schulterzucken bei beiden. Solche Szenen lassen sich zurzeit in Kairo immer wieder beobachten. Köpfe zusammenstecken, Getuschel, sich scheu umschauen.
Laute Debatten? Nein, die gibt es öffentlich so gut wie nicht mehr. Die gab es nur bis zum Putsch im Juni 2013. Damals wurde politischer Streit lautstark ausgetragen, nicht selten geschrien und gebrüllt mit hochroten Köpfen. Heute wird Kritik nur leise geäußert, zumindest die an Präsident Abdel Fattah al-Sisi, seiner Regierung und ihren Institutionen.
Feldzug gegen die Demokratie-Bewegung
Zum Beispiel die Gerichte. Das jüngste Beispiel. Am gestrigen Montag verurteilte ein Kairoer Gericht einen der führenden Köpfe der ägyptischen Demokratiebewegung, den Blogger Alaa Abdel-Fattah, zu fünf Jahren Gefängnis, weil er im November 2013 an einer nicht genehmigten Demonstration teilgenommen hatte. Mit dieser Demonstration hatten Abdel-Fattah und andere Akteure vom Tahrirplatz gegen die Einschränkung des Demonstrationsrechts protestiert, die kurz vorher von der damaligen Regierung verfügt worden war. In einem ersten Prozess war er, der sowohl 2011 gegen den Militärrat demonstriert hatte wie auch später gegen den Muslimbruder-Präsidenten Mursi, zu 15 Jahren verurteilt worden. Menschrechtsanwälte sprechen inzwischen von einem regelrechten Feldzug gegen die ägyptische Demokratiebewegung.
Auch Todesurteile gehören inzwischen zum Justiz-Alltag in Ägypten so wie der Bohnenbrei Ful zum ägyptischen Frühstück. Diese drakonischsten Strafen treffen fast ausschließlich Mitglieder der verbotenen Muslimbruderschaft, die im Dezember 2013 zur Terrororganisation erklärt worden war. Die meisten der Verurteilten sind ganz normale Muslimbrüder. Vielleicht waren sie bei den Demonstrationen auf dem Rabaa-al-Adawija-Platz am 14. August 2013 dabei, als Polizisten hunderte von ihnen erschossen, die aber auch gezielt zurückgefeuert hatten. Vielleicht haben sie auch nur ganz friedlich demonstriert, wenn auch mit viel Wut im Bauch, und sind verhaftet worden. Vielleicht hatten sie auch in Oberägypten gegen die neue Regierung protestiert, gewalttätig oder friedlich.
Todesurteile nach einer Stunde
Die Richter machten sich kaum die Mühe, das herauszufinden. Unter den Verurteilten sind aber auch hohe Funktionäre wie der Chef der Muslimbrüder Muhammad Badi’e und seine Vertreter. Selbst der am 30. Juni 2013 weggeputschte Präsident Mursi, dessen Prozess dieser Tage losging, muss mit einem Todesurteil rechnen. Häufig dürfen Verteidiger nur sehr eingeschränkt ihre Klienten vertreten, wenn überhaupt. Bei vielen solcher Prozesse waren Verteidiger gar nicht erst zugelassen. In einem der ersten verkündete der Richter schon nach weniger als einer Stunde seine Todesurteile gegen 529 Angeklagte.
Genauso gehören lebenslange Haftstrafen zu den gern gewählten Standard-Urteilen der Gerichte. Es reicht die Teilnahme an nicht genehmigten Demonstrationen und Zwischenfälle mit der Polizei, um für lange Zeit hinter Gittern zu verschwinden. Selbst Jugendliche unter 18 Jahre werden nicht geschont. Erst im Januar hatte ein Kairoer Gericht in einem summarischen Gerichtsverfahren 39 Ägypter unter 18 Jahren zu zehn Jahren Haft verurteilt. Sie hatten an einer Demonstration teilgenommen, bei der ein Polizist und ein Zivilist getötet worden waren. Eine Schuld an den Morden hatte das Gericht den Jugendlichen nicht nachgewiesen.
Folter wie zu Zeiten Mubaraks
Laut Innenministerium sitzen seit dem Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten Mursi 2.703 Ägypter in Haft wegen „illegaler Demonstrationen“. Menschenrechtsorganisationen halten diese Zahl für nach unten schön gerechnet. Die Menschenrechtsorganisation „Ägyptisches Zentrum für ökonomische und soziale Rechte“ spricht zum Beispiel von 41.000 politischen Gefangenen. Und Human Rights Watch stellt fest: Es wird wieder gedemütigt, geprügelt und gefoltert wie zu den schlimmsten Zeiten unter Mubarak.
Kann es durch die für April geplanten Parlamentswahlen besser werden? Wohl kaum. Die wichtigsten Parteien boykottieren diese Scheinwahlen, wie sie sie nennen. Zum Beispiel die Partei Starkes Ägypten von Abdel Moneim Abul Fotuh, einem hochangesehenen konservativen Politiker, der vor vier Jahren die Muslimbruderschaft verlassen hatte, um als Präsidentschaftskandidat antreten zu können. Er donnerte jüngst bei einem Parteikongress: „Dieses Regime unterdrückt mehr als das von Mubarak.“ Viele Anhänger dieser gemäßigt islamistischen Partei sitzen im Gefängnis.
Menschenrechtsverletzungen als Kollateralschäden
Anders reagiert die Partei der Ägyptischen Sozialdemokraten. Sie wird voraussichtlich Kandidaten für die Parlamentswahlen aufstellen. Ihr Vize-Vorsitzender Farid Zahran schrieb kürzlich in der englischsprachigen „Daily News“, man müsse diese Zeit der Repression, der auch Menschenrechte zum Opfer fielen, durchstehen, schließlich stünde Sicherheit über individuellen Rechten: „Wir können gegebenenfalls den Bürgern ihre Rechte zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückgeben.“ Menschrechtsverletzungen als Kollateralschäden im Kampf gegen Terrorismus also.
Für viele Ägypter dürfte eine solche Wiedergutmachung dann allerdings zu spät kommen. Allein in Polizeistationen der Gouvernements von Gizeh und Kairo starben im vergangenen Jahr 90 Menschen durch Folter. Dies entspricht, so schreibt die Zeitung „Al Watan“, einem Anstieg von 38 Prozent verglichen mit 2013.