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Rentenreform in Frankreich: Wie es zur Entscheidung per Dekret kam

Frankreichs Premierministerin Elisabeth Borne setzt auf Geheiß von Präsident Macron die umstrittene Rentenreform per Dekret durch. Nun könnte es zu einem Misstrauensvotum kommen, Neuwahlen inklusive. Die politische Rechte reibt sich die Hände.
von Kay Walter · 16. März 2023
Pfiffe und Buhrufe in der Nationalversammlung: Nach dem Beschluss der Rentenreform per Dekret stehen Frankreich unruhige Zeiten bevor.
Pfiffe und Buhrufe in der Nationalversammlung: Nach dem Beschluss der Rentenreform per Dekret stehen Frankreich unruhige Zeiten bevor.

Unter Geschrei und Buhrufen betrat Elisabeth Borne um zwei Minuten nach drei am Donnerstag das französische Parlament, die „Assemblée Nationale“. Die Sitzung wurde unterbrochen, da Abgeordnete der „France Insoumise“  die Premierministerin mit Gebrüll an ihrer Rede hinderten, und dann lauthals die Nationalhymne intonierten. Mühsam verschaffte Borne sich Gehör, setzte dann das Verfahren nach Paragraph 49.3 der französischen Verfassung in Kraft. Die Rentenreform sei „zwingend notwendig“, erklärte Borne, nur so könne der Fortbestand des Systems finanziell abgesichert werden. Weil aber die Stimmenmehrheit für die Reform nicht „eindeutig gesichert“ sei, werde sie qua Dekret mit dem Paragraph 49.3 durchgesetzt – also ohne Abstimmung im Parlament.

Kaum eine Stunde später versammelten sich hunderte Demonstrant*innen auf der Place de la Concorde. Die Gewerkschaften, die seit Wochen Millionen Menschen gegen die Rentenreform auf die Straßen des Landes bringen, kündigten an, Streiks und Proteste noch massiv auszuweiten. Die linke Opposition, erklärte mit wutschnaubender Empörung: „Die Regierung hat jedes Vertrauen verspielt, ist der französischen Demokratie nicht würdig und hat das Parlament gedemütigt und lächerlich gemacht.“ Allein Marine Le Pen blieb ausgesprochen ruhig, bekundete, Präsident Macron habe eine herbe Niederlage erlitten und lachte sich stillvergnügt in Fäustchen.

Das wichtigste Projekt von Präsident Macron

Schon seit Wochen stand fest: Dieser Donnerstag würde das Datum der Entscheidung über die Rentenreform, das wichtigste Projekt von Präsident Emmanuel Macron werden. An diesem Tag mussten beide Parlamentskammern über das Gesetz befinden. Den ganzen Tag lag eine mit Händen fassbare Spannung über dem Zentrum der Hauptstadt Paris. Wie erwartet, stimmte am Morgen der Senat mit deutlicher Mehrheit dem Gesetz zu. Für 15 Uhr war das Votum des Parlaments angesetzt.

Die Anspannung wuchs minütlich. Noch am Morgen hatten sowohl Macron als auch Premier Borne erklärt, die Rentenreform zur Abstimmung bringen zu wollen. Paragraf 49.3 bei einer so zentralen Sozialreform anzuwenden wäre unangebracht und könnte der Regierung weiterem Imageschaden zufügen, beteuerten sie.

Dieser Paragraph 49.3 (1955 auf ausdrückliches Betreiben von General Charles de Gaulle in die Verfassung eingearbeitet) sei zwar verfassungsgemäß, aber nicht das Mittel der Wahl. Das Problem dabei, Macrons Partei hat keine eigene Mehrheit im Parlament und ist auf Stimmen der konservativen Republikaner angewiesen. Und obwohl die Rentenreformpläne durchaus deren Vorstellungen entgegenkommen, war die Zustimmung aller konservativen Deputierten keineswegs sicher. Seit Tagen wurden sie daher in Gruppen- und Einzelsitzungen zu überzeugen versucht.

Pfiffe und Buh-Rufe im Parlament

Den ganzen Vormittag gingen die Druckbetankungen weiter. Mehrfach wechselte Premierministerin Borne zwischen Parlament und Élysée hin und her, um den Präsidenten über den Stand des Verfahrens in Kenntnis zu setzen, will sagen wieviel Stimmen definitiv und sicher seien.

Ab Mittag wurde immer klarer, dass Niemand mit Sicherheit die Prognose wagen konnte, die Regierung würde um 15 Uhr die erforderlichen 287 Stimmen beibringen können. Macron zog die Reißleine. Er beorderte das Kabinett in seinen Amtssitz, um klarzumachen, die Rentenreform sei unumgänglich, ein Durchfallen des Gesetzes bei der Abstimmung ein Maximalschaden. Dann müsse das Gesetz eben ohne Parlamentsmandat durchgedrückt werden. Es heißt, Elisabeth Borne habe – anders als der Präsident – für eine Abstimmung argumentiert.

Als sie die Assemblée betrat, war augenblicklich klar, dass alle auf genau dies Szenario vorbereitet waren. Die Abgeordneten von La France Insoumis schwenkten (gegen die Geschäftsordnung) Plakate mit der Losung „Nein zu 64 Jahre“, pfiffen und buhten und unterzogen Borne schließlich der Peinlichkeit, gegen die Nationalhymne ansprechen zu müssen. Andere verließen bereits bei ihren ersten Worten und noch bevor klar war, was sie überhaupt sagen würde, den Plenarsaal.

Es wird eng für Macron

Es wurde das erwartete Verfahren nach Artikel 49.3 – wie im Übrigen mehrfach in der Geschichte der Fünften Republik angewendet. Klar ist, eine Regierung, die sich gezwungen sieht, die Abstimmung über ihr zentrales Projekt abzusagen, weil sie nicht einmal selbst an die eigene Mehrheit glaubt, hat eine krachende Niederlage erlitten. Ob Élisabeth Borne den Abend und/oder die nächsten Tage als Regierungschefin übersteht, ist ungewiss. Man darf Zweifel haben.

Die Gewerkschaften werden die Proteste ganz sicher noch einmal verschärfen. Wäre Macron nicht entschlossen sich durchzusetzen, hätte er 49.3 nicht ziehen müssen. Ob er auch die Kraft hat, ist eine andere Frage. Alle Rentenreformen der vergangenen 30 Jahre waren von massiven Streiks und Protesten begleitet und Macron hat in seiner zweiten und letzten Amtszeit nichts zu verlieren. Und trotzdem: Es wird eng für ihn. Und einsam um ihn.

Erst einmal ist nun die Stunde der Opposition. Die hat durch 49.3 die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung zu stellen. Dafür braucht sie eine eigene, absolute Mehrheit. Die Abstimmung muss sehr zeitnah erfolgen. Fällt das Misstrauensvotum durch, gilt das Gesetz. Erhält es aber die Mehrheit, ist nicht nur das Gesetz abgelehnt, sondern auch die Regierung zusammengebrochen. In einem solchen Fall bliebe Macron kaum eine andere Wahl, als die Nationalversammlung aufzulösen und vorgezogene Neuwahlen anzuberaumen.

Frankreich stehen heftige Wochen bevor

Darauf spekuliert Marine Le Pen. Sie hat als Chefin der bei weitem größten Oppositionspartei bereits ihren Misstrauensantrag annonciert. Vermutlich glaubt sie selbst nicht an dessen Erfolg, aber sie kann gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Sie führt erstens Macrons Regierung vor. Sie führt zweitens die Linke, die sich gerade besonders stark fühlt, am Nasenring durch die Arena. Es wird nämlich ihr Antrag verhandelt werden und nicht einer von Mélenchons Epigonen. Und die demokratische Linke, die sich ohne Not in Abhängigkeit von Mélenchons Harakiri-Kurs begeben hat, darf „wählen“, ob sie mit den Rechtsradikalen stimmen will oder, sollte sie das nicht tun, von Le Pen vorgeführt wird als Verräterin mit Angst vor der eigenen Courage.

Ähnlich wird es auch den Konservativen gehen. Bei Neuwahlen könnten sie zwischen Le Pens Populismus, Macrons bürgerlichem Lager und einer zersplitterten Linken zerrieben werden. Ganz sicher ist: Frankreich stehen heftige Wochen bevor.

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