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Rentenreform in Frankreich: Warum Marcrons Sieg Proteste provoziert

Der französische Verfassungsrat hat die umstrittene Rentenreform gebilligt. Die Anhebung des Renteneinstiegsalters von 62 auf 64 Jahre ist legal. Präsident Macron hat das Gesetz umgehend ratifiziert. Das stachelt die Proteste weiter an.
von Kay Walter · 17. April 2023
Die Proteste gegen Macrons Rentenreform eskalieren: In Rennes brannten am 15. April 2023 die Türen einer Polizeistation und des Kongresszentrums.
Die Proteste gegen Macrons Rentenreform eskalieren: In Rennes brannten am 15. April 2023 die Türen einer Polizeistation und des Kongresszentrums.

Die mit Spannung erwartete Entscheidung wurde am Freitagabend um Punkt 18 Uhr vom französischen Verfassungsrat verkündet. Demnach ist die Rentenreform in allen wesentlichen Punkten verfassungstechnisch nicht zu beanstanden. Zurückgewiesen wurden sechs Einzelpunkte, so ein spezieller Seniorenarbeitsvertrag, der Unternehmen zwingen sollte, älteren Beschäftigten einen unbefristeten Vertrag mit geringeren Sozialabgaben anbieten zu müssen oder ein verpflichtender Medizincheck für alle in Risikoberufen Beschäftigte ab 60, sowie ein Umschulungsfonds.

Die zweite Entscheidung des Abends war mindestens ebenso gewichtig: Der Verfassungsrat verwarf eine vom linken Oppositionsbündnis NUPES angestrebte Volksabstimmung gegen die Rentenreform als nicht zulässig. Zwei Drittel der Franzosen sind weiterhin vehement gegen das Gesetz, aber nunmehr sind die juristischen Mittel dagegen das nahezu komplett ausgeschöpft. Am 3. Mai entscheidet der Verfassungsrat noch über einen zweiten Referendumsantrag. Aber auch dafür stehen die Chancen nicht gut. Präsident Macron hat juristisch auf ganzer Linie gewonnen.

Die Proteste gehen weiter

Was bleibt sind Machtdemonstrationen auf der Straße. Denn nach diesem Verdikt des Verfassungsrats ist mit weiteren Protesten zu rechnen, und zwar mit heftigen. Freitagabend fanden landesweit bereits 230 Manifestationen statt. Und sie blieben nicht alle friedlich. Allein in Paris wurden 112 Personen bei den teils unangemeldeten Demos verhaftet. In Marseille musste zeitweilig der Bahnverkehr unterbrochen werden und in Rennes brannten die Türen einer Polizeistation und des Kongresszentrums. Das Pariser Verfassungsratsgebäude war den ganzen Tag über hermetisch abgeriegelt, Metrostationen in der Nähe geschlossen.

Dass aber Macron doch noch zum Einlenken gezwungen werden kann, ist unwahrscheinlich – selbst wenn Viele das weiterhin für möglich halten. Macron hat das Gesetz nur wenige Stunden nach dem Urteil der Verfassungshüter noch in der Nacht auf den Samstag in Kraft gesetzt. Ein klares Zeichen, ja eine Machtdemonstration: Da habt Ihr es. Nicht freundlich. Gleichzeitig hat er die Chefs der Gewerkschaften für Dienstag zu Gesprächen in den Élysée eingeladen – was die Damen und Herren umgehend abgelehnt haben.

Präsident Marcron provoziert zusätzlich

Denn die eilige nächtliche Unterschrift provoziert noch mehr Ärger. Laurent Berger, Chef der sozialdemokratischen Gewerkschaft CFDT hatte Macron eindringlich gebeten, nicht bereits am Wochenende zu unterschreiben, eben weil sechs Härtefallregelungen gestrichen wurden. „So machen es Diebe“, sagte Kommunisten-Chef Fabien Roussel.

Man darf fest davon ausgehen, dass die kommenden Wochen und erst recht der 1. Mai 2023 von Streiks und Demonstrationen geprägt sein werden. Die Wut ist im Land riesengroß. Über die Rentenreform als solche, über ihre undemokratische Durchsetzung am Parlament vorbei und nun, zu guter Letzt über die extrem schnelle Ratifizierung. Das wirkt wie ein weiterer Tritt vors Schienbein.

Macrons Agieren verfassungsrechtlich korrekt

Man muss aber festhalten, dass im Ernst niemand erwarten durfte, dass der Verfassungsrat die Rentenreform aus inhaltlichen Gründen kippen würde. Und auch die Durchsetzung des Gesetzes mittels Paragraph 49.3 am Parlament vorbei war völlig legal. Der Präsident und seine Regierung durften juristisch so verfahren. Es war politisch und demokratietheoretisch falsch, wenn nicht gar ein Desaster, aber verfassungsrechtlich eben nicht zu kritisieren.

Zur Debatte standen im Verfassungsrat denn auch nur formale Fragen, zum Beispiel: Darf eine Rentenreform als Finanzgesetz zur Sicherung der Sozialsysteme ins Parlament eingebracht werden, oder muss sie zwingend als Sozialgesetz beraten werden? War die Verkürzung der Debattenzeit womöglich nicht korrekt?

Die Folgen des Urteils

So erklärt sich dann auch, warum einerseits die Anhebung der Mindestrente auf 1.200 Euro bei voller Beitragszeit den Rat passierte, der verpflichtende Seniorenarbeitsvertrag aber nicht. Letzterer ist eindeutig ein Sozialgesetz und darf nicht mit dem Finanzgesetzbuch geregelt werden. Da muss die Regierung jetzt also noch nacharbeiten. Und zwar dringend. Denn ohne die beiden abgewiesenen Paragrafen verlöre die Rentenreform noch weiter an sozialer Ausgewogenheit. Auch hier ist die Entscheidung des Verfassungsrates keine inhaltliche Frage, sondern formaljuristisch begründet, weil nur das in den Aufgabenbereich des Rates fällt.

Der Conseil Constitutionnel wurde 1958 als Verfassungsorgan der Fünften Republik gegründet. Was seine Aufgaben angeht, entspricht das Gremium dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Seine neun Mitglieder sind aber keine Richter, sondern werden für eine Amtszeit von 9 Jahren eingesetzt, in aller Regel wegen besonderer (politischer) Leistungen. Je drei bestimmen der Präsident der Republik und die Präsidenten der parlamentarischen Versammlungen (Nationalversammlung und Senat). So gehören dem aktuellen Rat zwei ehemalige Premierminister an, der Sozialist Laurent Fabius als Vorsitzender und der Konservative Alain Juppé. Spätestens vier Wochen nach Anrufung muss der Verfassungsrat eine Entscheidung vorlegen.

Rentenreform nicht mehr zu stoppen

Das ist nun am Freitag passiert und damit ist Macrons Rentenreform beschlossene Sache. Selbst wenn Anfang Mai der zweite Antrag zum Referendum durchkommen würde, hätte dies erstens keine aufschiebende Wirkung, sondern setzte zweitens lediglich einen Prozess in Gang, der mindestens eineinhalb Jahre dauert, bei offenem Ausgang.

Macron hat das Gesetz auch deshalb unmittelbar gegengezeichnet, um das unmissverständlich klarzumachen. Das Signal heißt: Die Rentenreform ist nicht mehr zu stoppen. Gleichzeitig betont der Präsident in Richtung Gewerkschaften: „Die Türen des Élysée-Palasts werden für den Dialog offenbleiben, ohne Bedingung.“

Macron als „lame duck“?

Wie bereits im März haben die Gewerkschaften das Angebot ausgeschlagen und das Treffen verweigert. Sie halten Macrons „Angebot“ weder für Ernst gemeint, noch für ehrlich. Die Strategie können sie aber nicht ewig weiterverfolgen, selbst wenn sie Recht haben. Denn irgendwann muss es um konkrete Verbesserungen im Sinne der Menschen gehen. Klug wäre also, dem Präsidenten jetzt Kompromisse abzutrotzen. Denn auch wenn er das Kräftemessen um die Rentenreform gewonnen hat, Macron ist extrem geschwächt: Er hat keine eigene Mehrheit mehr im Parlament – egal für welches Projekt. Er kann Politik nicht länger gestalten. Seine Glaubwürdigkeit ist erschüttert. Das Vertrauen der Menschen in Politiker wie das System als solches befindet sich im freien Fall. Das wiederherzustellen war Macron angetreten. Nun hat er es noch schwerer geschädigt als zuvor.

Gar nicht auszudenken was passierte, zöge er ein weiteres Mal den Paragraf 49.3, egal für welchen Inhalt. Will er nicht die nächsten Jahre als „lame duck“, einsam und ohne Macht im Präsidentenpalast zubringen, muss er auf die Menschen auf der Straße und auf die Gewerkschaften zugehen. Was bedeutet, genau jetzt ist die Zeit für diejenigen, die Politik gestalten wollen.

 

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