Regierungskrise in Italien: „Neuwahlen sind nicht vom Tisch“
imago images / ZUMA Press
Nach dem Rücktritt des italienischeschen Ministerpräsidenten Conte sondieren die Fünf-Sterne-Bewegung und die sozialdemokratische PD eine Regierungsbildung. Für wie wahrscheinlich halten Sie, dass es dazu kommt?
Eine Koalition zwischen PD und Fünf-Sterne-Bewegung hätten vor zehn Tagen noch alle politischen Beobachter für unmöglich erklärt. In den vergangenen Tagen hat sich eine rasante Annäherung der einstigen politischen Gegner vollzogen. Ob das wirklich gelingt, ist momentan noch unklar, aber immerhin sind die beiden Parteien bereit, aufeinander zuzugehen und auszuloten, inwiefern eine Basis für eine belastbare Zusammenarbeit besteht. Allein Neuwahlen zu verhindern und Salvini von der Regierung fernzuhalten, ist kein tragender Grund für eine solche Koalition von zwei Parteien, die sich bis vor kurzem noch mit heftigsten Vorwürfen überzogen.
Die Parteiführung der PD hat fünf Bedingungen für eine mögliche Koalition formuliert, darunter eine vollständige Anerkennung der Prinzipien der parlamentarischen Demokratie. Warum?
Der PD ist es ein wichtiges Anliegen, dass die neue Regierung in großer Diskontinuität zu der vorangegangen steht sowohl inhaltlich als auch personell. Als zentrale programmatische Anliegen der PD nannte deren Vorsitzender Zingaretti die Punkte: verlässliche Mitgliedschaft Italiens in der EU, volle Anerkennung der repräsentativen Demokratie und der zentralen Stellung des Parlaments, eine ökologisch nachhaltige Entwicklungsstrategie für Italien, eine Veränderung in der Migrationspolitik sowie eine neue Ausrichtung der Finanz- und Sozialpolitik. Dass hierbei die Anerkennung der Prinzipien der parlamentarischen Demokratie so eine zentrale Rolle spielt, mag aus deutscher Sicht erstaunen, erklärt sich aber aus dem Herkommen der Fünf-Sterne-Bewegung, die keine Partei im klassischen Sinne ist, sondern sich als direktdemokratische Bewegung versteht, bei denen die Anhänger über Mitgliederentscheide einen großen Einfluss ausüben. Perspektivisch war es einst das Ziel der Fünf-Sterne-Bewegung, die traditionelle parlamentarische Demokratie durch direktdemokratische Beteiligungsformen zu überwinden.
Führende Vertreter der „Fünf Sterne“ und der PD haben gesagt, dass eine Koalition bis zum regulären Ende der Legislatur 2023 halten sollte. Ist das realistisch?
Im Durchschnitt dauern Regierungskoalitionen in Italien nur ein gutes Jahr, diese Woche ist die 65. Nachkriegsregierung abgetreten. Rein statistisch gesehen, sind die Chancen also schlecht, dass eine etwaige Koalition zwischen PD und Fünfsternebewegung bis 2023 halten wird. Entscheidend ist, ob beide Partner genug Vertrauen zueinander finden und ein tragfähiges Regierungsprogramm für eine solch lange Zeit. Und schließlich ist da noch Matteo Renzi, der vormalige Regierungschef und einstmalige Vorsitzender der PD. Er kontrolliert maßgebliche Teile der Abgeordneten der PD in den beiden Kammern des Parlaments. Wenn er sich entscheiden sollte, wie schon angedroht, mit „seinen“ Abgeordneten eine eigene Partei zu gründen und die PD zu spalten, wäre die Koalition von PD und Fünfsternebewegung am Ende.
Ist eine Neuwahl damit vom Tisch?
Neuwahlen sind nicht vom Tisch. Aktuell sind die Chancen 60 zu 40, dass es zu keinen Wahlen kommt. Momentan führt Staatspräsident Mattarella Konsultationen mit den Parteivertretern durch. In der Zwischenzeit finden intensive Verhandlungen zwischen PD und Fünf-Sterne-Bewegung statt. Wenn es den beiden Parteien gelingt, sich bis Anfang nächster Woche auf ein inhaltliches Programm und Personaltableau zu einigen, wird Matterella von Neuwahlen absehen. Wenn sich eine stabile Mehrheit aber nicht bis zu diesem Zeitpunkt abzeichnet, wird Matterella das Parlament auflösen und zu Neuwahlen schreiten.
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.