Referendum in der Türkei: Was Präsident Erdoğan wirklich will
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„Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind“, sagte Recep Tayyip Erdoğan im Jahr 1997 als Oberbürgermeister von Istanbul. In der Folge bekam er mächtig Ärger: Die türkische Regierung warf ihm Verfassungsbruch vor, Erdoğan wolle die Demokratie abschaffen, hieß es. Ein Gericht im ostanatolischen Diyarbakır verurteilte ihn deswegen 1998 zu einer zehnmonatigen Haftstrafe und lebenslangem Politikverbot.
Aus der Gefängniszelle in den Palast
Heute ist alles anders: Erdoğan hat die Gefängniszelle längst verlassen, stattdessen residiert er jetzt in einem Palast mit rund 1000 Zimmern – als Staatspräsident der türkischen Republik. In dieser Funktion scheint er das Land nun völlig umkrempeln zu wollen: Am 16. April lässt er dafür die türkischen Wähler über eine neue Verfassung abstimmen.
Wie weit die Änderungen gehen, die Erdoğan und der Regierungspartei AKP vorschweben, zeigen Juristen der Universität Erlangen-Nürnberg: Sie haben den Gesetzesentwurf, der im April zur Abstimmung steht, ins Deutsche übersetzt. Seitenweise hat die türkische Regierung neue Passagen in die Verfassung eingefügt – zu einem Großteil sind diese dazu bestimmt, alle Macht auf einen Mann zu konzentrieren: den Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Erdoğan als Oberbefehlshaber der Armee
Eine ganze Reihe an neuen Aufgaben und Kompetenzen sind für das Präsidentenamt vorgesehen, das in der jetzigen Verfassung eher eine neutrale und repräsentative Funktion hat. Im neuen Entwurf wird dem Präsidenten die Macht über die ausführende Gewalt im Staat zugeteilt. Er soll sämtliche Minister und Leiter der Verwaltungsbehörden ernennen und entlassen dürfen. Ein Privileg, das bisher beim türkischen Parlament lag. Außerdem dürfte er Volksabstimmungen einläuten und allein über den Einsatz der türkischen Streitkräfte entscheiden. „Er bestimmt die nationale Sicherheitspolitik und trifft die erforderlichen Maßnahmen“, heißt es in der Gesetzesvorlage. Damit würden dem Präsidentenamt „extrem weitreichende Kompetenzen“ eingeräumt, sagt Ali Yarayan, Leiter der Forschungsstelle Türkisches Recht an der Uni Erlangen. Der Präsident könne nach der neuen Verfassung jederzeit Präsidialverordnungen mit Gesetzeskraft erlassen.
Alevitische Gemeinde: „Wir sind konkret betroffen“
Yıldız’ Position ist klar: Sie ist gegen die neue Verfassung. Der Grund: „Wir sind konkret betroffen“, sagt sie. Schon heute seien Aleviten in der Türkei extremer Diskriminierung ausgesetzt. Sich gegen den Druck zur Wehr zu setzen, werde bald völlig unmöglich, befürchtet Yıldız. Schon jetzt sei der alevitische Fernsehsender „Yol-TV“ verboten – ohne dass irgendjemand etwas dagegen machen könne.
Aus diesem Grund wirbt die Alevitische Gemeinde Deutschland in der türkeistämmigen Community für „Hayır“ – für ein „Nein“ – beim Verfassungsreferendum. Das gleiche tut auch der SPD-Landtagsabgeordnete Turgut Yüksel aus Hessen. „Weil viele, die ‚Ja’ sagen, nicht wissen, worum es geht“, hat er eine Aufklärungskampagne im Rhein-Main-Gebiet gestartet. Er hat Flyer gedruckt, Poster gemacht und Einladungen verschickt. Erreicht hat er damit sowohl Anhänger der pro-kurdischen HDP als auch der kemalistischen CHP. Selbst mit Konservativen sei er ins Gespräch gekommen, erzählt er. Sein Ziel ist, Menschen davon zu überzeugen, von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Er will auch „die erreichen, die an den Wahlen nicht teilnehmen.“
Ein „Nein“ ist möglich
Auf Facebook habe er für sein Engagment schon den Hass türkischer Nationalisten gerntet, so Yüksel im Gespräch mit vorwärts.de. Auch die türkische Tageszeitung „Sabah“ schimpfte schon über ihn und seine Aktionen gegen die Verfassungsänderung. Davon will sich der SPD-Politiker aber nicht entmutigen lassen. Noch vier Wochen sind es bis zur Abstimmung. Dann wird sich zeigen, ob mehrheitlich „Evet“ (Ja) oder „Hayır“ (Nein) gewählt wird. Dass Präsident Erdoğan die Stimmung in der Türkei bis dahin weiter aufheizen wird, davon ist Turgut Yüksel überzeugt. Dennoch ist er zuversichtlich, wenn er sagt: „Ein ‚Nein’ ist möglich.“
ist promovierter Sprachwissenschaftler und war bis Mai 2018 Redakteur beim vorwärts.