Am Montag hat die rechtspopulistische Mehrheit um Premier Viktor Orbán eine radikale Verfassungsänderung im ungarischen Parlament durchgepeitscht. Auch Kompromisse, die er auf Druck der EU-Kommission machen musste, wurden auf einen Schlag rückgängig gemacht. Der Protest ist groß.
„Es ist jetzt genug, wir werden dies nicht mehr hinnehmen. Wir werden jeden Tag auf die Straßen gehen, bis jemand Viktor Orbán endlich stoppt“, verspricht Ádám Paulovics. Der 21-jährige engagiert sich seit Längerem bei der Studentenorganisation HaHa, doch in den letzten Wichen geht er tatsächlich fast täglich demonstrieren. Ungarns rechtspopulistische Premier hat es beinahe geschafft: Gegen die umfassende Verfassungsänderung, die am vergangenen Montag im Parlament durchgepeitscht wurde, hat sich ein selten breiter gesellschaftlicher Widerstand gebildet. Studenten, Obdachlose, Gewerkschafter, Schwule und Lesben, Lehrer, Menschenrechtsaktivisten, Medienschaffende, verarmte Rentner und Budapester Hipster demonstrieren gemeinsam. Es ist eine wahre Premiere im traditionell apathischen Osteuropa.
EU-Kompromisse rückgängig gemacht
Das Ergebnis der Abstimmung hat niemanden überrascht. Dass die Fidesz-Zweidrittelmehrheit alles abnickt, was Viktor Orbán in den Sinn kommt, gilt mittlerweile als eiserne Regel unter dem Regime der „nationalen Zusammenarbeit“. Der neue Gesetzestext besteht aus 15 Seiten und stellt bereits die vierte Änderung des neuen rechtskonservativen, 45-seitigen Grundgesetzes dar, das erst Anfang 2012 in Kraft getreten ist. Die Änderung macht fast alle Kompromisse, die Orbán auf Druck der EU oder des Verfassungsgerichts akzeptieren musste, auf einen Schlag rückgängig.
So werden die Kriminalisierung der Obdachlosigkeit, die Einschränkungen der Wahlwerbung und die Verwaltungswillkür in Sachen Religionsfreiheit, die bereits für verfassungswidrig erklärt wurden, jetzt wieder möglich, in dem die Parlamentsmehrheit sie einfach in die Verfassung schreibt. Das Grundgesetz wurde auch um einen Passus ergänzt, der die Ehe als heterosexuell definiert.
Autonomie von Justiz und Forschung eingeschränkt
Desweiteren schränkt der Text die Autonomie der Universitäten deutlich ein und droht den Studenten, die nach dem Abschluss im Ausland arbeiten wollen, hohe rückwirkende Studiengebühren an. Auch die Unabhängigkeit der Justiz wird beschnitten, in dem ein politisch ernannter Beamter ohne Begründung entscheiden kann, welcher Richter welchen Fall bekommt. Schließlich bekommt selbst das Verfassungsgericht Orbáns Rache für das Kippen der Gesetze zu spüren: Die Richter müssen ihre alten Beschlüsse neu redigieren.
Angesichts der massiven Angriffe auf die Rechtsstaatlichkeit radikalisiert sich wie erwartet der Protest der demokratischen, vor allem außerparlamentarischen Opposition. Die Fidesz-Zentrale in Budapest wurde am vergangenen Donnerstag mehrere Stunden lang von Protestlern besetzt. Am Samstag sammelten sich rund 6.000 Demonstranten auf einer Kundgebung in der Alkotmány utca („Verfassungsstraße“) und zogen anschließend quer durch die Stadt bis zum Sitz des Verfassungsgerichts. Für den kommenden Freitag, Ungarns Nationalfeiertag, ist wieder mit massiven Protestaktionen der diversen Oppositionsgruppen zu rechnen.
EU-Politiker Martin Schulz für Sanktionen
Auch die Vertreter der europäischen Institutionen äußerten sich zu der Lage in Ungarn kritisch. Dennoch wird es vielen Beobachtern immer klarer, dass es in der EU keinen Konsens über dieses Thema gibt. Während Kommissionspräsident José Manuel Barroso und der deutsche Außenminister Guido Westerwelle sich lediglich „besorgt“ erklärten, fiel die Reaktion des EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz weniger zurückhaltend aus: „Angesichts der angespannten Lage zwischen Ungarn und den europäischen Institutionen wird sicher auch über Sanktionen diskutiert werden müssen“, sagte der deutsche Sozialdemokrat. Auch in der Vergangenheit kritisierten europäische Sozialisten und Grüne die Regierung in Budapest. Die ungarische Zivilgesellschaft erwartet jedoch viel schärfere Töne und ein klares Machtwort aus Brüssel.
Die Kommission könnte nämlich auf die außerordentliche Situation mit außerordentlichen Maßnahmen reagieren und der EU ein wirksames Druckmittel zur Verfügung stellen für den Fall, dass in einem europäischen Land der Rechtsstaat gefährdet wird. Dies könnte, wie bereits in einem Schreiben des deutschen und drei anderer Außenminister angedroht, das Zudrehen des Brüsseler Geldhahns sein, was in Zeiten der Schuldenbremsen und Ratingagenturen verheerende Konsequenzen auf die finanzielle Stabilität eines Landes hätte – zumindest in Ost- und Südeuropa, also an der europäischen Peripherie. „Wir hoffen auf Europas Hilfe. Bis dahin bleibt uns nur der permanente Protest“, sagt Ádám Paulovics.